Die gepflasterten Straßen Sookandils reichten vom Zentrumsviertel bis zum Kai hinab. Nicht jeder Stadtteil war mit Straßen versehen; schlammige Gassen und Trampelpfade führten in den ärmeren Vierteln durch die chaotische Anordnung der Häuser und Hütten. Jene Stadtteile -- die Viertel der Tagelöhner, Lastenträger, Hilfsarbeiter -- bestanden aus Holzhütten billigster Art, meist aus Abfallholz gezimmert und nicht immer regendicht. Keine dieser Baracken besaß richtige Fenster; Leintuch verhüllte Löcher in den Wänden. Hier und da sah man Lehmhütten. Diese armen Bezirke lagen im Norden und Westen der Stadt.
Die etwas wohlhabenderen Bürger -- Kleinhändler, Handwerker und gelernte Arbeiter -- besaßen Häuser aus gutem Zimmerholz oder Stein. In ihren Vierteln befanden sich Fußwege aus Bohlen oder Trittsteinen entlang der Straßen. Die Straßen selbst waren nur festgestampfte Erde, aber zumindest konnte man auf den Fußwegen trockener Pfote gehen.
Das Zentrum jedoch, das Viertel der Beamten, Großhändler, Meister und Priester, bestand ausschließlich aus Steinhäusern, manche von ihnen vier Stockwerke hoch. Hier waren alle Straßen gepflastert und wurden von Laternen gesäumt. Die Häuser besaßen Fenster mit Scheiben aus teurem, flachem Glas.
Allen Vierteln aber war gemein, daß zahlreiche Bäume und freie Flächen die Häuserreihen durchbrachen. Selbst die ärmsten Bürger ließen Eichen und Linden am Rand der Gassen stehen, und die Kinder der Stadt konnten auf grünen Wiesen spielen -- sofern sie Zeit zum Spielen erübrigen konnten und nicht im Geschäft der Familie aushelfen mußten.
Khiray hatte in den Men'schin-Städten andere Bauweisen gesehen. Men'schin umgaben ihre Städte häufig mit Mauern, und damit diese Mauern nicht zu lang wurden, mußten die Häuser in ihrem Inneren eng beieinander stehen. Eine erdrückende Architektur, fand Khiray, die den Men'schin kaum Platz zum Atmen ließ. Saskeeld war auf diese Weise erbaut: ein düsterer Ort, wo die hohen Mauern der grauen Häuser sich über die Straßen hinaus wölbten und die Dächer oftmals die Gassen völlig vom Sonnenlicht abschlossen. Es gab keine Bäume und keine Wiesen in Saskeeld, und die wenigen freien Plätze schienen von tausend Augen beobachtet zu werden.
Men'schin, was für ein seltsames Volk.
Khiray hatte gehört, daß es unter den Men'schin häufig Kriege gegeben hatte und daß Stadtmauern ein Schutz waren. Das Fellvolk bedurfte dieses Schutzes nicht. Im Armygan gab es nur ein Reich für alle Rassen, und die Unzugänglichkeit des Armygan fernab der Men'schin schützte das Fellvolk besser als jede Mauer. Saskeelds Stadtmauern, so hatte Khiray erfahren, waren tatsächlich von den Men'schin erbaut worden, weil man fürchtete, daß das Fellvolk sie angreifen könnte. Was für eine lächerliche Vorstellung.
Vor zwei- oder dreihundert Jahren hatte ein Gouverneur von Sookandil tatsächlich den Gedanken gehabt, die Stadt bräuchte eine Mauer, um sie vor den Gefahren des wilden Landes zu schützen. Unter seiner Herrschaft hatte man begonnen, einen mächtigen Schutzwall zu errichten. Die Arbeiten starben jedoch mit dem Gouverneur. Das fertige Mauerstück, zweihundert Meter lang und begrenzt von zwei gedrungenen Wachttürmen, durchbrochen von einem eindrucksvollen Tor, trennte heute das Tagelöhnerviertel des Westens vom Zentrum ab. Es war schier unüberwindlich. Niemand hatte es je geschafft, die Wälle zu erklimmen. Niemand hatte es je versucht... Man pflegte rechts oder links an der Mauer vorbeizugehen oder das Tor zu benutzen, dessen hölzerne, geschnitzte Flügel leider nie fertiggestellt worden waren und das daher nicht zu schließen war.
Khiray blieb kurz auf dem Kai stehen und atmete tief durch. Fischgeruch drang aus dem Fischerviertel. Küchendunst zog vorbei. Der chemische Gestank von Gerbmitteln, Farben und alchemistischen Substanzen wehte schwach heran. Rauch, Staub, Gewürzduft und ein Hauch nach frischen Brotkrusten lagen in der Luft, vermischt mit den individuellen Gerüchen Hunderter Felliger der verschiedenen Rassen.
Nach der 'Silbernen Ansicc' war Sookandil der Ort, der für Khiray einem Zuhause am nächsten kam. Obgleich er die verschlafene Atmosphäre, die provinzielle Abgeschiedenheit verabscheute, hatte er doch beim Betreten des Kais das Gefühl, heimzukehren.
Tagelöhner eilten heran, um ihre Dienste beim Entladen des Schiffes anzubieten. Saswin begann damit, ihnen ihre Aufgaben zuzuteilen. Die hellen Stimmen müßiger Kinder erklangen, die das Einlaufen der 'Silbernen Ansicc' bemerkt hatten. In der Ferne riefen die Glocken des Brotmarktes zum Kauf.
Khiray begab sich ohne Zögern zum Büro des Hafenmeisters, um das Schiff zu melden und das Eintreffen der Ladungen bekanntzugeben. Die Hafenmeisterei war ein kleines Steingebäude mit hohem Dach am Ende des Kais. Direkt neben diesem Haus stand das Leuchtfeuer, dessen Unterhaltung in der Nacht und an nebligen Tagen ebenfalls zu den Pflichten des Hafenmeisters gehörte.
Brokvorth der Wolf war schon Hafenmeister, seit Khiray denken konnte. Er war inzwischen alt geworden, sein ehemals stahlgraues Fell schneeweiß, seine Augen trübe und sein Gang schleppend. Aber er hatte sich immer wieder geweigert, sein Amt seinem Enkel zu überlassen; schließlich war sein Verstand noch scharf, und die meiste Arbeit erledigten sowieso die Gehilfen.
"Meister Brokvorth?" fragte Khiray. Der Wolf saß hinter seinem Schreibtisch und begutachtete Tabellen und Listen, die er dicht vor die Augen hielt. Als er das Eintreten des jungen Fuchses bemerkte, sah er auf.
"Khiray!" Er lächelte. "Ihr seid spät dran. Ich hatte euch vor einer Woche erwartet."
"Probleme mit dem Kessel", erklärte Khiray zum wiederholten Male. Er berichtete kurz von der Fahrt und den Neuigkeiten aus den Men'schin-Städten, die Brokvorth immer ungemein interessierten.
"Hmja", grunzte der alte Wolf schließlich. "Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten für euch."
"Was ist geschehen?" Khiray hatte keine Veränderungen in der Stadt bemerkt. Hochwasserfluten richteten immer größere Schäden im Hafenbereich an. Ein Feuer vielleicht, das ein Arbeiterviertel verwüstet hatte?
"Der alte Gouverneur Chinnap ist gestorben. Sein Sohn hat seine Nachfolge übernommen."
"Sarmeen?"
"Nein, Galbren." Der Hafenmeister trommelte mit den Krallen auf dem Tisch herum.
Khiray schluckte. Galbren war nicht gerade ein umgänglicher Wolf, ganz im Gegenteil. Er war finster und herrschsüchtig. Sarmeen wäre der designierte Nachfolger Chinnaps gewesen, aber es paßte zu Galbren, daß er den Posten okkupierte. "Was ist mit Sarmeen geschehen?"
"Niemand weiß Genaues. Es heißt, daß Sarmeen bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen ist. Aber man hat niemals eine Leiche gefunden. Jedenfalls ist niemand da, der sich Galbrens Ansprüchen widersetzen könnte."
Khiray schnitt ein Gesicht. "Nun, wir werden nicht allzuviel mit ihm zu tun haben. Vater will so bald wie möglich wieder aufbrechen."
"Galbren hat die Steuern erhöht. Die Liegegebühren sind auch gestiegen. Ihr werdet weniger für eure Waren bekommen, als ihr vielleicht erwartet habt. Und mehr für neue Ladung bezahlen müssen."
"Das wird Vater nicht gefallen. Die Reparaturen am Kessel sind schon teuer genug."
Meister Brokvorth runzelte die Stirn. "Galbren zieht uns allen das Fell über die Ohren. Aber die meisten Bürger glauben, es sei nur zu ihrem Besten. Hast du die Gehängten gesehen?"
"Gehängte? In Sookandil ist seit fünfzig Jahren niemand mehr gehängt worden."
"Perlish und seine Bande. Fünf Fellige. Haben seit ein paar Monaten die Gegend unsicher gemacht. Ein paar Überfälle und Räubereien. Vor zwei Wochen ist draußen auf dem Madrenhof Madrens Frau vergewaltigt worden. Galbren hat seine Garde losgeschickt, und jetzt baumeln die Schurken." Der Wolf seufzte tief. "Die neue Garde ist sehr... effizient. Aber ich traue Galbren trotzdem nicht über den Weg."
Verärgert verließ Khiray das Büro. Höhere Kosten, größere Ausgaben, weniger Gewinne. Galbren als Gouverneur? Er hatte Galbren ein- oder zweimal im Gouverneurspalast gesehen und nicht den besten Eindruck von ihm gewonnen. Auf der anderen Seite bedeutete jeder neue Gouverneur auch einen neuen Regierungsstil. Ehe Galbren sich nicht etabliert und als würdig erwiesen hatte, würde eine gewisse Unruhe in der Stadt herrschen.
Wie Khiray erwartet hatte, explodierte Saswin, als der junge Fuchs ihm die Nachrichten überbrachte. Er hatte bereits mit Kunden gesprochen und über Tarife verhandelt, aber die Neuigkeiten warfen alle Verhandlungen über den Haufen. Um noch den nötigen Gewinn aus der Fahrt zu ziehen, würden sie die Preise für eigene Waren erhöhen müssen. Selbst die Tagelöhner wollten mehr Geld.
"Eines Tages werden wir keine Münzen mehr benutzen", prophezeihte Saswin, "weil wir dann unsere Geldbeutel in Schubkarren transportieren müßten, wenn wir auch nur essen gehen. Geld wird dann auf Papier gedruckt werden wie Bücher, und wenn wir es nicht fest genug halten, fliegt es davon." Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. "Das Gefühl habe ich ohnehin schon."
Khiray überließ Saswin seinen Geschäften und ging in den Maschinenraum des Raddampfers, um nach Delley zu sehen. Delley war eine Ratte und der Maschinist der 'Silbernen Ansicc'. Es gab auf dem ganzen Fluß kaum einen geschickteren und erfahreneren Maschinenmann. Ohne Delley hätte die 'Silberne Ansicc' schon viele Male antriebslos festgelegen.
Diesmal jedoch mußte er seine geliebten Maschinen den Kesselflickern überlassen. Die nötigen Arbeiten ließen sich mit Bordmitteln nicht mehr durchführen.
Der Maschinenraum lag mittschiffs, direkt zwischen den Schaufelrädern. Da der Raddampfer nur geringen Tiefgang hatte, lagen die Maschinen über der Wasserlinie, auf dem Frachtdeck. Seit dem Einbau der Hitzeschleife wurde der Kohle- und Holzbunker nicht mehr benötigt; dort war jetzt Fracht untergebracht. Aber obgleich die Hitzeschleife die Verwendung von Heizmaterial überflüssig machte, roch es bei den Kesseln immer noch nach Kohlestaub und Asche. Der intensive Geruch nach Schmiermitteln und heißem Stahl ließ Khiray die Nase rümpfen.
Die Größe der Kessel und Getriebe war beeindruckend. Die dicken Achsen der Schaufelräder, die gewaltigen Zahnräder, die Gestänge und Übersetzungen füllten fast den ganzen Maschinenraum, ließen gerade Platz genug zum Stehen. Gitterroste und Leitern bildeten verschlungene Gänge über und unter den Maschinen. Aber trotz der drangvollen Enge war an allen wichtigen Stellen Platz genug, die Maschinen zu inspizieren, zu schmieren und notfalls zu reparieren.
Die Kesselflicker, zwei Ratten, ein Kaninchen und ein Wolf, stöhnten bereits unter Delleys Anweisungen. Delley hatte keine Zeit verloren, die Handwerker zusammenzutrommeln. Wenn er die Kesselflicker weiterhin antrieb, würden die Maschinen in einer Woche wieder laufen können -- oder die Arbeiter streiken.
"Delley, hast du einen Moment Zeit?" fragte Khiray.
"Eigentlich nicht. -- He, da drüben! Wirf mir nicht die Werkzeuge um! -- Was gibt es denn?"
"Vater und ich gehen zum Palast wegen der Rückzahlung. Wir sind in einer Stunde zurück. Sollen wir anschließend in die Stadt, ein wenig bummeln gehen?"
"Das Geld brennt dir wohl heiß in der Tasche, eh? -- NICHT DORT! Rechts, ihr Trottel! -- Was ist mit den Verkäufen?"
"Vater sagt, wir müssen erst Auskünfte einholen. Uns umhören. Die Preise neu festsetzen. Wußtest du, daß Sookandil einen neuen Gouverneur hat?"
"Nah. Erzähl's mir später. -- Mit den Werkzeugen wollt ihr arbeiten? Hier, DAS ist ein Hammer! -- Arbeit und Vergnügen kombinieren, was? Einmal durch die Kneipen ziehen?"
"So hat er es sich wohl vorgestellt, mehr oder weniger." Khiray dachte an das vorzügliche Bier, das sie im Südviertel brauten. "Ich bin mir sicher, die Kesselflicker kommen auch ohne dich zurecht." Diese Feststellung erntete dankbare Blicke von den Handwerkern.
"Da bin ich mir nicht so sicher. Aber wenn sie mir hier etwas versauen, nagele ich ihre Ohren an das Deck. -- Was denn, das soll Blech sein? Da ist ja das rostige Dach vom Oberdeck besser geeignet! -- Nun, wenn die Pflicht ruft, folge ich gerne."
"Wenn die Pflicht in die Bars ruft..."
Delley grinste. "Natürlich. -- Wollt ihr etwa den ganzen Kessel ausbauen wegen dem kleinen Loch? Hier, stellt euer Gerüst zwischen den Kesseln auf! Und was ist das wieder...?"
Das Fellvolk pflegte wenig Kleidung zu tragen. Das gewöhnliche, von beiden Geschlechtern getragene Kleidungsstück war der Lendenschurz. Er bestand aus einem schmucklosen Gürtel und einem Tuch, das am hinteren Ende aufgeschlitzt war. Das Tuch wurde zwischen den Beinen hindurchgeführt und vorn und hinten am Gürtel befestigt, so daß die drei Enden lose herabhingen. Der Schwanz blieb durch das geschlitzte Ende frei beweglich. Am Gürtel ließen sich bei Bedarf auch Taschen und Waffen befestigen.
Manche Fellige trugen nicht einmal das; Otter lehnten jegliche Kleidung grundsätzlich ab, weil sie ihre Beweglichkeit im Wasser behinderte, und verwendeten nur zeitweise Taschengurte. Tagelöhner und Hilfsarbeiter leisteten sich selten den Luxus eines sauberen Schurzes. Das Fellvolk war durch ihren Pelz ohnehin gegen kaltes Wetter gefeit.
In der Hauptstadt und allen wichtigen Orten gab es wechselnde Moden. Kleidung war auch ein Signal des Status, und die teilweise heißen und unbequemen Verhüllungen, denen sich der Adel unterwarf, dienten allein dem Präsentieren persönlichen Reichtums. Manchmal verlangte die Mode Freizügigkeit, und die einzige erlaubte Kleidung waren Perlenschnüre und Streifen gewobenen Stoffs, besetzt mit kostbaren Steinen. In anderen Jahren durfte nur wenig vom Körper überhaupt zu sehen sein, und je ausladender und stickiger die Kleidung war, um so angesehener der Träger.
Manchmal übernahm man die Mode von anderen Völkern, etwa den Men'schin: es war zur Zeit von Khirays Besuch in Drun'kaal etwa unter weiblichen Felligen Brauch gewesen, die Brüste zu verhüllen. Man hatte schnell wieder darauf verzichtet, da Brüste beim Fellvolk erstens nicht dieselbe erotisierende Wirkung hatten wie bei den Men'schin und zweitens nicht so ausgeprägt waren. Die meisten Felligen besaßen noch rudimentäre Reihen von je zwei oder drei Brustwarzen, wenn auch nur zwei Brüste voll ausgeprägt waren -- mit Ausnahme der Ratten, bei denen vier Brüste die Regel waren. Als optische Signale waren Schwänze und Ohren wichtiger, und die aktuellste Mode verlangte, die Ohren mittels bunter papierner Tüten zu vergrößern und die Schwänze hochgebunden zu tragen.
Aber fernab der Hauptstadt pflegte man die Narreteien der Mode nicht mitzumachen, die ja ohnehin erst mit monatelanger Verspätung in die Städte entlang des Flusses kam. Man begnügte sich mit praktischer Kleidung -- Schürzen und Umhänge zum Schutz des Fells bei Malern, Schmieden oder Bäckern; Kitteln mit vielen Taschen bei Handwerkern; weiten Röcken und schützenden Lederwamsen bei den Garden. Natürlich stellte man auch hier seinen Besitz durch Kleidung zur Schau, jedoch nie in einem Maße, daß die Bequemlichkeit dadurch behindert wurde.
Für den Besuch beim Gouverneur zog Khiray einen guten Schurz an, der mit Stickereien verziert war, hängte einen Beutel an den Gürtel und streifte eine Weste mit einer Borte aus Silberfäden über. Ein kleines Messer sollte Wehrhaftigkeit demonstrieren, aber nicht aggressiv wirken. Das Geld hängte er sich wie immer in einem Beutel um den Hals, wo es Taschendieben schwerer fiel, es ihm abzunehmen.
Sein Vater war ähnlich gekleidet, als sie die Straße zum Zentrum hinaufmarschierten, nur daß er seine Füße auch mit gebundenen Sandalen geschützt hatte. Schuhe waren ein Privileg; die wenigsten Felligen leisteten sich diesen Luxus. Unter Men'schin, so hatte Khiray zu seiner Verblüffung festgestellt, waren Schuhe allgemein üblich, und es gab eine große Auswahl an Fußbekleidung. Aber Men'schin hatten auch zarte, weiche Füße, die sich zum Laufen auf Steinen und in dornigem Gelände kaum eigneten.
Der Palast des Gouverneurs war das größte Haus in der Stadt und besaß zwei Türme, doch es war ebenso aus Stein gemauert und schlicht gehalten wie die meisten anderen Häuser. Es gab keine extravaganten bunten Glasfenster, keine Kuppeln und geschwungene Bögen, keine Brücken und steinerne Tiere, die auf dem Dach hockten. Sookandil war keine Stadt, die sich für ihren Gouverneur besonderen Luxus leistete.
Es dauerte nicht lange, zum neuen Gouverneur vorgelassen zu werden. Galbren hatte anscheinend nicht viel zu tun. Die Gouverneure stellten die Verwalter und obersten Beamten, aber auch die Richter und Schlichter der Stadt dar. Nachdem Galbren fünf Fellige hatte hängen lassen, war die Aktivität von Räubern und Dieben wohl merklich zurückgegangen.
Es fiel Khiray jedoch auf, daß Garden überall präsent waren. Auf den Märkten standen Garden, im Palast selbst hielten sich einige auf, und man konnte kaum drei Straßen weit gehen, ohne auf eine Patrouille zu stoßen. Die Garden sollten für Sicherheit sorgen und Gesetzesverstöße umgehend ahnden oder gleich verhindern. Aber Khiray fühlte sich seltsam beobachtet. Vielleicht lag es an den neuen Uniformen. Unter dem alten Gouverneur hatten die Garden einfache Kleidung mit einem Abzeichen getragen. Jetzt liefen die Wächter in Lederwams, Lederrock und Schuhen herum, und ihre Arme und Beine waren von gehärteten Schienen geschützt. Unter der Rüstung trugen sie roten Seidenstoff -- rot wie Blut --, und von den Schultern der Hauptleute flatterten grellgelbe Stoffstreifen. Und obgleich es üblich war, in der Stadt Waffen offen zu tragen, war die Art ihrer Bewaffnung eher geeignet für einen Men'schin-Krieg. Vielleicht lag es daran, daß Khiray meinte, zwei- oder dreimal so viele Garden zu sehen wie bei seinem letzten Aufenthalt hier. Sie waren einfach auffälliger.
Andererseits -- vielleicht auch nicht.
"Willkommen zurück in Sookandil", sagte der Gouverneur. Das Amtszimmer Galbrens war schlicht und schmucklos, bis auf die Waffen an den Wänden: Schwerter, Lanzen, Messer, Hellebarden. Chinnap hatte Luxus geliebt, keine Waffen. Galbren schien aus anderem Holz geschnitzt.
"Danke, Gouverneur." Saswin verbeugte sich höflich. "Wir möchten Euch zu Eurer Amtsübernahme gratulieren."
Galbren nickte bedächtig. "Danke. Es scheint jedoch ein wenig unpassend, angesichts der Umstände. Ich würde diesen Sitz nicht innehaben, wäre nicht mein lieber Bruder Sarmeen -- verschwunden. Ich bin ein einfacher Felliger, der die Jagd liebt. Diese Regierungsgeschäfte sind Gift für meine Gesundheit. Aber es würde meinem Vater das Herz brechen, würde ich mich der Pflicht entziehen."
Khiray schätzte Galbren ganz anders ein. Zu seinen Lebzeiten hatte Galbren kaum ein freundliches Wort für seinen Vater übrig gehabt. Der Gouverneur saß nicht hinter diesem Tisch, weil er irgendeine Pflicht zu erfüllen hatte, sondern weil er dort sein wollte.
Aber wer erwartete schon die Wahrheit von einem Politiker? Gegen die Ränkespiele in Drun'kaal waren Galbrens salbungsvolle Ausflüchte harmlos.
"Es tut uns leid, das zu hören", erwiderte Saswin. Natürlich tat es ihm nicht leid. Khiray wußte, daß sein Vater Galbren für einen intriganten Demagogen hielt. Aber der höfliche Austausch von Lügen genügte wenigstens dem Zeremoniell.
"Wie gehen die Geschäfte?" Galbren beugte sich vor.
"Sie könnten besser sein. Die Abgaben sind erhöht worden." Saswin tat, als habe eine dritte Person diese Erhöhung veranlaßt, nicht Galbren selbst. Im Geiste machte sich Khiray Notizen. Eines Tages würde er auf ähnliche Weise mit Gouverneuren sprechen müssen.
"Ja, eine Schande für das Geschäft. Mich selbst trifft diese Erhöhung ja auch. Es ist Euch sicher bekannt, daß ich selbst über zwei Schiffe verfüge. Ehe die Umstände mich in das Amt zwangen, hatte ich eine Karriere als Händler im Auge. Mein lieber Bruder war ja stets derjenige, der den Posten erben sollte. Nun muß ich in meiner Eigenschaft als Gouverneur Steuern erhöhen und Abgaben verlangen, während ich als Händler doch lieber Steuern senken und weniger zahlen würde."
"Eine äußerst prekäre Situation", erwiderte Saswin ernsthaft.
"Was mich zu Eurem Darlehen bringt."
Khiray hielt die Luft an. Noch mehr schlechte Nachrichten? Er sah, wie der Schwanz seines Vaters zu zucken begann. Saswins Miene blieb gelassen, aber Khiray konnte vorhersagen, daß er kurz vor einem Zornesausbruch stand.
Und man sollte niemals in Gegenwart der Mächtigen die Beherrschung verlieren.
"Wir sind uns sicher, daß wir alle strittigen Fragen zu beiderseitiger Zufriedenheit klären können", sagte Khiray schnell und trat vor seinen Vater.
Galbren, offenbar ein wenig überrascht, nickte. "Ihr habt mit meinem Vater einen günstigen Vertrag über eine gewisse Summe Geldes abgeschlossen. Als Händler kann ich die vereinbarten Bedingungen in dieser Form nicht aufrechterhalten. Ich muß die Zinsen ein wenig der Wirtschaftslage anpassen." Er nannte eine neue Summe, die nicht weit von Wucher entfernt war -- und um so weiter von den günstigen Konditionen, die Chinnap Saswin gewährt hatte.
Khiray trat seinem Vater auf die Zehen, ehe dieser etwas sagen konnte. "Nicht alle von uns tragen Schuhe", meinte er. Nicht alle von uns sind so reich, daß wir solche Zinsen zahlen könnten.
"Es steht Euch frei, Euch von dem Vertrag freizukaufen, indem Ihr die gesamte Summe sofort zurückzahlt." Galbren funkelte sie aus zusammengekniffenen Augen an. Erwartete er allen Ernstes, daß sie den gesamten Kredit sofort abzahlen konnten? Das Geld, das Saswin für die Hitzeschleife benötigt hatte, war zwar zu zwei Dritteln abgezahlt, aber auch der Rest war noch eine beträchtliche Summe.
"Ich fürchte, das ist uns nicht möglich. Angesichts des schlechten Geschäftes haben wir diese Summe nicht in barem Gold verfügbar." Khirays Gedanken rasten. Er verhandelte mit einem Gouverneur -- Witz und Verstand waren gefragt. Und Erfahrung, aber die hatte er nicht zu bieten; Geschäfte auf eigene Faust hatte er nur mit weit kleineren Summen Geldes unternommen.
Und alle Trümpfe lagen in Galbrens Hand. Chinnaps Tod hatte den Kredit in seine Krallen gespielt, und das Gesetz gab ihm das Recht, den Vertrag zu modifizieren. Galbren war zu klug, mehr zu verlangen, als gerade noch statthaft war, aber er schöpfte seine Möglichkeiten bis an die Grenze aus.
Aber Khiray mußte seinem Vater das Heft aus der Hand nehmen, sonst hätte Saswin versucht, den Wolf zu erwürgen. Was auch ohne anwesende Garden schlecht ausgegangen wäre, denn Galbren war fast zwei Köpfe größer als Saswin, massiger gebaut und etliche Jahre jünger.
Es gelang Khiray schließlich, ihre Geschäfte in so schwarzen Farben zu beschreiben und die Möglichkeit anzudeuten, daß seine Familie Schiff und Geschäft verlor -- womit der Kredit ebenfalls hinfällig wurde --, daß Galbren seine Forderungen leicht senkte. Er verlangte immer noch mehr, als Khiray zahlen wollte, aber der junge Fuchs mußte sich damit zufriedengeben. Sein Vater trug Schuhe; das Spiel "ich besitze nichts, also kann ich nichts geben" ließ sich nicht beliebig weit treiben.
Mit allerlei schönen Formeln, guten Wünschen und erlogenen Nettigkeiten drängte Khiray seinen Vater zur Tür, und sie verließen den Palast unbehelligt.
Erst als sie um die nächste Ecke gegangen waren, ließ Saswin die Maske der Gleichmut fallen und knirschte mit den Zähnen. "Dieser kleine miese... Was glaubt er denn eigentlich... Wenn ich nicht so ein friedliebender..."
"Wir können nichts tun", erinnerte ihn Khiray. "Es ist alles im Rahmen der Gesetze."
"Ja", seufzte sein Vater. "Alles im Rahmen der Gesetze. Genau wie die Steuern und die Abgaben und... Ich sollte ihm die Kehle..."
"Er hat die Zahl der Garden erhöht", stellte der junge Fuchs fest.
Saswin grunzte und sagte eine Weile lang nichts. Schließlich bemerkte er: "Das hast du gut gemacht. Geschickt verhandelt. Du wirst einmal ein großartiger Händler werden."
Khiray lächelte still. Es war nicht unbedingt sein Traum, Händler zu sein. Aber das Lob seines Vaters war ihm dennoch höchst willkommen.
"Und ich werde alt. Es ist schon zu lange her, seit ich mit diesen frechen Kerlen die Klingen gekreuzt habe. Wenn man eine Weile lang nur mit ehrbaren Leuten Geschäfte macht, verliert man seine Fähigkeit, den Gaunern Paroli zu bieten. Halsabschneider. Händler und Gouverneur gleichzeitig, das sollte das Gesetz verbieten."
Khiray zuckte die Achseln. "Wir können immer noch eine andere Route fahren, und die Zinsen sind nicht unbezahlbar."
Saswin nickte. "Wir werden nicht arm werden. Aber die Leute in der Stadt können ihrem Gouverneur nicht einfach aus dem Wege gehen. Sie sollten sich beim Drunfürsten beschweren."
"Die Reise ist weit und teuer. Galbren versteht es sicher, sich mit allen gutzustellen, die eine Beschwerde vorbringen könnten -- oder überhaupt am Hof des Drunfürsten angehört würden." Khiray konnte sich nicht vorstellen, daß ein Bauer im Lendenschurz bei Hofe Gehör fand. Gerechtigkeit war für die, die sie sich leisten konnten.
"Er versteht noch mehr, nach allem, was ich gehört habe...", sinnierte Saswin. Dann richtete er sich auf. "Ich muß zurück zum Schiff. Soll ich Delley sagen, daß du hier auf ihn wartest?"
Khiray nickte. "Er weiß, wo wir uns treffen. Ich höre mich schon einmal um."
Saswin schritt bedächtig die lange Straße zum Hafen hinab. Khiray sah ihm nach. Sein Vater schien von den jüngsten Neuigkeiten gebeugt, als sei das Geschäft inzwischen mehr eine Last als ein Vergnügen geworden.
Khiray hatte das Gefühl, als wäre es an der Zeit, seine Träume von Drun'kaal endgültig zu vergessen und einen größeren Teil des Geschäfts zu übernehmen. Zeit, erwachsen zu werden.
Die aufgeregten Stimmen rissen ihn aus seinen Gedanken.
"Fremde! Fremde!"
Khiray sah auf. Bürger der Stadt, besonders Kinder, liefen in Richtung des westlichen Zentrums, wo die große Mauer, das unvollendete Stück der Stadtwehr, lag. Fremde? Dann sollten sie eigentlich zum Hafen hinab laufen...
Weiter im Süden gab es Straßen, Wege oder zumindest Pfade zwischen Städten des Armygan. Hier im äußersten Norden des vom Fellvolk besiedelten Gebiets reichten die Verbindungen über Land nur bis zu den umliegenden Dörfern, niemals bis zu einer anderen Stadt. Man benutzte Schiffe oder Boote, um in den Süden zu gelangen.
Gab es tatsächlich Fremde, die auf dem Landweg hier ankamen? Der Fuchs runzelte die Stirn. Wer? Von wo? Warum? Er schüttelte den Kopf und schritt entschlossen gen Westen aus.