"Dek ist verhaftet", erinnerte Khiray ihn. Er starrte auf die Überreste des kleinen Standes der Fuchstauren, zerstört, zertrampelt und verlassen. Die kunstvollen Schnitzereien waren zerbrochen, die fein gewebten Tücher in den Schmutz getreten. Niemand hatte die Reste fortgeräumt, als seien sich alle Bewohner Sookandils einig darin, sie als Erinnerung liegenzulassen.
Der Anblick machte Khiray traurig. Dinge, die mit Liebe geschaffen worden waren, sinnlos zu vernichten, machte Saswin nicht wieder lebendig.
Der Fuchs war verbrannt worden, wie es der Sitte entsprach, und fast ein Drittel der Sookandiler hatte der Zeremonie beigewohnt. Nicht unbedingt deshalb, weil Saswin ein so hochangesehener und bekannter Bürger gewesen war, obgleich er keinen schlechten Ruf hatte; vielmehr, weil der Mörder ein Fremder war, ein Fuchstaur, jemand, der nicht in den Armygan gehörte. Noch während der Verbrennung hatten die ersten Gerüchte die Runde gemacht. Der Zorn erfaßte die Menge, und kaum waren die letzten, abschließenden Worte gesprochen, zog ein bewaffneter Mob gegen die Fuchstauren aus.
Sie zerstörten alles, dessen sie habhaft werden konnten. Die Fuchstauren ergriffen die Flucht, ohne sich zu wehren; sie hätten sicherlich Dutzende von Städtern töten können, schließlich besaßen sie ihre eigenen Waffen noch, aber sie taten es nicht. Niemand machte sich die Mühe, sie zu befragen. Hätte man sie gefaßt, wären sie noch vor Dek gehängt worden.
Und das war das Schicksal, das Dek sicherlich bevorstand. Noch in derselben unheilvollen Nacht, als Khiray den Mord an die Nachtwache meldete, waren die Garden ausgezogen. Der junge Fuchs hatte noch nie so viele uniformierte Bewaffnete auf einmal gesehen, nicht einmal in Drun'kaal. Es war, als hätte Galbren die halbe Stadt rekrutiert. Die Straßen waren hell erleuchtet von Fackeln, und der hallende Sturmschritt der Garden weckte die meisten Bürger auf.
Dek war nicht unter den Fuchstauren gewesen, die hinter dem Stand schliefen; er war auch am nächsten Morgen nicht auffindbar. Erst gegen Mittag ließ er sich in der Stadt sehen -- offenbar von Reue geplagt, denn er wehrte sich nicht gegen seine Verhaftung. Mikhoi vom Steilen Pfad, der Anführer der Fuchstauren, beschwerte sich bei Galbren, aber die Festnahme war rechtmäßig. Die Indizien, die gegen Dek sprachen, waren überwältigend, und Mikhoi hatte nichts dagegen vorzubringen. Er mußte schließlich zugeben, daß er selbst nicht wußte, wo Dek in der Nacht gewesen war.
Noch während dieses Tages brach Unruhe unter den Bürgern aus. Man fühlte sich nicht mehr sicher mit den Fremden in ihrer Mitte. Wer wußte denn, wer als nächstes hinterhältig massakriert werden würde?
Zu Khirays Überraschung machte sich Farlin zum Wortführer der Fuchstauren-Hasser. Nie zuvor hatte Khiray seinen Onkel so erregt und zornig gesehen. Der große Fuchs hatte stets so ruhig und beherrscht gewirkt, daß nichts ihn aus der Fassung zu bringen schien. Nun aber hatte er alle Ruhe verloren. Er schlief kaum noch; immer wieder sprach er mit Garden und Bürgern und schürte den Haß.
Unterdessen sah sich Khiray mit den besorgten Kunden und Trauergästen konfrontiert. Fast alle ehemaligen Geschäftspartner Saswins reihten sich vor der 'Silbernen Ansicc' auf, um Beileid zu bezeugen -- und sich hinter der Maske heuchlerischen Wehs ihres geschäftlichen Vorteils zu versichern. Es war Khiray schwergefallen, das Wohl des Geschäfts zu bedenken. Trauer und Depression bedrückten ihn, und er wäre lieber allein und ganz woanders gewesen. Aber schließlich waren alle Dinge geregelt, alle Geschäfte bestätigt, alle Verträge erneuert. Er war jetzt Kapitän des Schiffes und Nachfolger seines Vaters als Händler.
Allein mit sich und seinen Gedanken stand er in der Steuerkabine hoch über dem Rumpf der 'Silbernen Ansicc' und starrte dumpf brütend über die Stadt. Warum nur, warum hatte Dek das getan? Der Fuchstaur lag in Ketten in den Kerkern unter dem Palast und sah dem sicheren Tod entgegen. Er wäre den Garden nicht entkommen, selbst wenn er nicht zurückgekommen wäre; man hätte die anderen Fuchstauren statt seiner verhaftet, um ihn zur Aufgabe zu zwingen. Er konnte nicht gegen alle Garden der Stadt kämpfen.
Aber wozu hatte er diesen Mord begangen? Er hätte sich die Waffen nehmen und wieder verschwinden können. Farlin und Saswin waren keine ebenbürtigen Gegner für einen jungen, gesunden, starken Fuchstauren.
Und wozu die Waffen stehlen? Khiray hatte den Fuchstauren eine Beteiligung am Gewinn angeboten. Lag es eher im Rahmen von Deks Ehrbegriff, Dinge zu stehlen statt ein ehrliches Geschäft anzunehmen? Es paßte nicht. Die Waffen waren für den Verkauf gedacht gewesen; es handelte sich nicht um heilige Dinge (vielleicht mit Ausnahme der Traummesser) oder sonstige Gegenstände, denen eine besondere Bedeutung zugekommen wäre.
Rache? Hatte Dek Khiray treffen wollen? Nein. Er hatte Gelegenheit gehabt, den Fuchs zu töten, und sie nicht genutzt. Und überhaupt, ein feiger Mord paßte nicht zu Dek.
Nichts paßte zusammen. Es war ein Puzzle ohne Lösung.
Bei der Verbrennungszeremonie traf Khiray seine Kunden wieder, die sich von Neuem in salbungsvollen Tröstungen ergingen. Farlin, der in den beiden Tagen zuvor kaum an Bord des Schiffes gewesen war, hatte vehement gegen die Fuchstauren gesprochen, bis der Priester selbst ihn auffordern mußte, Würde und Ruhe zu wahren.
Der Mob war ausgezogen...
Khiray hob eine der zerbrochenen Schnitzereien auf. So viel Arbeit vernichtet.
"Ich werde nicht ruhen und rasten, ehe dieser Dek am Galgen baumelt." Farlin sah sich zustimmungsheischend um, aber niemand war in der Nähe, um seine Worte zu begrüßen. Zwei Tage waren seit der Verbrennung vergangen, und die Stadt hatte ihre normale Geschäftigkeit wieder aufgenommen. Da die Fuchstauren nicht anwesend waren und Dek im Kerker schmorte, gab es niemanden zu hassen. Eine gewisse Unsicherheit war noch immer vorhanden, und es gab keinen Bürger mehr, der auch nur leiseste Zweifel an der Notwendigkeit der Garden äußerte. Aber der flammende Zorn war gewichen.
Khiray fand die Stimmung dennoch erschreckend. Dek war noch nicht verurteilt worden, und die anderen Fuchstauren waren nicht einmal angeklagt. Aber die Sookandiler hätten sie liebend gerne alle hängen sehen. Hier und da wurde sogar Wort gegen die Men'schin laut, als seien diese verantwortlich für die Fuchstauren.
Am lautesten riefen natürlich die, die nie mit den Fuchstauren gesprochen oder einen Men'schin auch nur gesehen hatten. Fremde raus! Der Armygan den Felligen!
Angesichts der Feindseligkeit hätte Khiray sich Sorgen um das Geschäft machen müssen. Die Route zu den Men'schin brachte schließlich den Profit, von dem die Mannschaft der 'Silbernen Ansicc' lebte. Aber der Kummer hielt ihn noch immer fest im Griff.
Der Kummer, und das Rätsel.
Langsam wanderten Khiray und Farlin zurück zum Schiff. Farlin wurde nicht müde, über die Schlechtigkeiten der Fuchstauren zu schwadronieren. Schließlich sagte er: "Ich verlasse das Schiff."
"Was?" Khiray glaubte sich verhört zu haben. Farlin -- das Schiff verlassen? Der Fuchs war nicht mehr der Jüngste. Wo wollte er einen neuen Anfang als Händler machen? Er hatte kein Recht auf einen Anteil am Schiff, und Khiray konnte ihm keine Reichtümer ausbezahlen. Ohne Gold und Güter würde es ihm schwerfallen, wieder Fuß zu fassen.
"Ich werde mich den Garden anschließen." Das wurde ja immer besser! Farlin bei den Garden? Farlin, der Soldat? Der Gedanke war fast zu absurd, um ihn weiter zu verfolgen, aber der Fuchs meinte es ernst. "Ich habe heute morgen mit Galbren geredet. Er hat mir einen Posten als Hauptmann angeboten. Erfahrene Männer, die etwas von der Welt gesehen haben, sind immer gefragt. Ich werde Strategie und Taktik lernen und einen Trupp der Garden anführen." Er blickte zum Himmel auf, vermied es, Khiray in die Augen zu sehen.
"Onkel!" sagte der junge Fuchs eindringlich. "Du verstehst mehr vom Geschäft als vom Soldatentum. Händler werden immer gebraucht. Soldaten sind nur für den Krieg, und es hat seit tausend Jahren keinen richtigen Krieg mehr gegeben!"
"Garden", verbesserte Farlin. "Junge, vielleicht sind die Zeiten des Friedens vorüber. Galbren hat mir die Augen geöffnet. Viele Dinge sind schlechter geworden in den letzten Jahren. Und jetzt das... dieser feige Mord! Fremde kommen in den Armygan, mehr und mehr Fremde. Jemand muß den Frieden bewahren. Unten in Drun'kaal kümmern sie sich nicht um uns, solange sie ihren Teil der Steuern bekommen. Sie sehen nicht, was hier passiert. Die Men'schin werden unfreundlicher. Khiray, vielleicht planen sie schon den ersten Schritt in den Krieg!"
Khiray konnte kaum glauben, was er hörte. Die Men'schin hatten sich immer wenig um den Armygan gekümmert. Seit das Fellvolk hier lebte, waren die Rassen nie aneinandergeraten. Das Imperium Dharwil jenseits der Berge der Men'schin war so viele Male größer als der Armygan, daß es die Men'schin kaum interessieren konnte, ob das flußdurchzogene Waldland noch zu ihrem Machtbereich gehörte oder nicht. Es stellte nicht mehr als einen kleinen Fleck auf ihren Karten dar, kaum der Aufmerksamkeit des Imperators würdig. Er selbst hatte nie den kleinsten Hinweis darauf entdeckt, daß die Men'schin irgend etwas gegen das Fellvolk im Schilde führten.
Und Farlin hatte nie auch nur einen Verdacht in dieser Hinsicht geäußert. Es war, als sei er völlig verwandelt.
Khiray konnte ihn verstehen. Aber auf der anderen Seite... das Leben ging weiter. Es galt, Reisen zu unternehmen, Geschäfte abzuschließen, Profite auszuhandeln. Er konnte kaum begreifen, daß er selbst jetzt das Schiff führen würde, daß er für all das verantwortlich war. Aber Saswin hatte ihn gut vorbereitet, und wenngleich der Tag viel zu früh kam -- Khiray hatte beschlossen, sich seiner würdig zu erweisen.
Trauer währte nicht ewig. Er war kein kleiner Welpe mehr, wie damals, als seine Mutter starb. Er wußte, daß er Saswin noch lange vermissen würde, vielleicht Jahre, aber er hatte ein Leben zu leben. Und wenn erst einmal der Gerechtigkeit Genüge getan wurde und Dek am Galgen baumelte...
...der Gerechtigkeit?
Deks Tod würde kaum der Gerechtigkeit dienen, eher der Rache und der Befriedigung der dumpfen Wut der Bürger. Farlin würde keinen Frieden finden.
Und wenn er selbst ehrlich zu sich war, war er nicht überzeugt, daß Dek den Mord wirklich begangen hatte. Es mochte Indizien geben. Aber zu viele Puzzleteile paßten zu schlecht, als daß sie ihn beruhigt hätten. Wie hatte der Wurm-Berater gesagt?
"Kleines Fellwesen. Bauer in einem Spiel, das du nicht verstehst, von dem du nichts ahnst."
Khiray biß die Zähne zusammen. Vielleicht verstand er das Spiel noch nicht. Aber er hatte einen Entschluß gefaßt.
"Die Kessel sind jetzt völlig geflickt." Delleys Augen waren blutunterlaufen, und er strahlte eine tiefe Müdigkeit aus. Mit wenigen Schlafpausen hatte er die vergangenen Tage durchgearbeitet und sich in seine Maschinen verkrochen, als böten sie allein Trost. Die Kesselflicker standen am Rande des Wahnsinns. Khiray beschloß, ihnen ein gutes Trinkgeld zukommen zu lassen. "Die Rohre sind geprüft und verstärkt. Alle schwachen Stellen sind ausgemerzt, alle rostigen Teile ersetzt. So gut wie neu." Er seufzte. "Nun gut, nicht so gut wie neu, aber so gut wie es irgend ging. Das sollte schon ein paar Jahre halten." Er blinzelte Khiray an, weniger vergnügt als zu Tode erschöpft. "Ich gehe jetzt und betrinke mich zu Saswins Ehren."
"Nein", sagte Khiray.
"Nein?" Delley fuhr sich überrascht über die Ohren. "Warum nicht?"
"Ich brauche dich nüchtern. Hör mir zu. Nein, komm erst in die Navigationskabine." Khiray sah sich um. "Hier auf Deck haben die Planken Ohren."
"Ich bin dreckig." Delley wies seine öligschwarzen Hände vor.
"Egal." Khiray ging die Treppe hinauf, bis auf das zweitoberste Deck, wo die Navigationskabine lag. Dieser Raum, voll von Karten und Meßbestecken, Instrumenten und Kompassen magischer und nichtmagischer Bauart, war der wichtigste Ort an Bord der 'Silbernen Ansicc' und stets gut verschlossen. Der Armygan war praktisch nur über die Flüsse zugänglich, ein Netzwerk großer und kleiner Flußarme, mächtiger Ströme und kleiner Bäche, und die richtigen, guten Karten waren teuer. Man mußte an einer Universität studieren, um Kartenmacher zu werden. Die Boote der Kartenmacher fuhren jahrein, jahraus über die Flüsse und maßen, kontrollierten und vermerkten alle gefährlichen Stellen, alle Änderungen der Flußläufe, alle Untiefen und Stromschnellen.
Nicht alle Karten in diesem Raum waren neueren Datums. Wenige Händler konnten sich einen Satz Karten für den ganzen Armygan leisten und diesen dann noch auf dem neuesten Stand halten. Aber die Umgebung Sookandils und ein großer Teil der Route hinab nach Drun'kaal waren auf neuen Karten verzeichnet.
Darüber hinaus waren in der Navigationskabine auch die Goldreserven versteckt, von denen nur Saswin, Khiray und Farlin wußten -- oder gewußt hatten. Aber es ging Khiray jetzt nicht um Gold. Es ging um Gerechtigkeit.
Khiray verschloß die Kabinentür hinter sich und Delley.
"Was soll die Geheimniskrämerei?" Delley war mißmutig. Der junge Fuchs sah ihm an, daß er glaubte, ein Besäufnis dringend zu benötigen.
"Glaubst du, daß Dek es war?"
Delley riß die Augen auf. "Was? Was soll das? Natürlich war er's!"
"Sicher?"
"Oh, Khiray! Du hast ihn doch in der Kneipe gesehen! Er hätte dich niedergeknüppelt und sich dabei noch für einen großartigen Kerl gehalten! Du hast gehört, was der Hauptmann gesagt hat. Die Beweise. Er ist verhaftet. Willst du ihn jetzt noch verteidigen?"
Khiray schüttelte den Kopf. "Es gibt keine Beweise. Niemand hat ihn an Bord kommen sehen. Er hat keine Pfotenspuren hinterlassen."
"Es war sein Messer. Er hat es zugegeben."
"Er hat zugegeben, daß es sein Messer ist, nicht, daß er Saswin ermordet hätte. Er hatte kein Motiv. Wenn er jemanden hätte ermorden wollen, dann nur mich. Er kannte Vater gar nicht!"
"Er hat euch verwechselt."
"Ach, Delley! Du hast die Fuchstauren nur einmal gesehen, und du kannst sie trotzdem auseinanderhalten. Sie sind leichter zu unterscheiden als Kaninchen oder Bären! Und umgekehrt gilt das sicher auch. Mein Vater war viel älter als ich. Dek hätte ihn nie mit mir verwechselt."
"Nachts? Wenn er betrunken war?"
Khiray winkte ab. "Er hat nicht den Charakter dafür. Ich habe mit ihm gesprochen."
"...hast dich fast umbringen lassen, ich weiß..."
"Er war es nicht! Er wollte sich einen Namen verdienen. Durch Mord und Diebstahl hätte er seinem Stamm nur neue Schande gebracht. Er wußte das. Er hätte es nie getan, sein Name war ihm viel zu wichtig!"
"Hm."
"Denk nach! Glaubst du immer noch, daß er es war? Wenn du alle Möglichkeiten in Betracht ziehst?"
"Jep."
Khiray ließ die Ohren hängen. "Dann hat es keinen Zweck. Danke trotzdem, daß du mir zugehört hast." Er schloß die Tür wieder auf.
"Khiray?" Delley legte ihm eine Hand auf den Arm, schmutzig wie sie war. "Was immer du vorhast... wenn du wirklich daran glaubst, bin ich auf deiner Seite."
"Tatsächlich? Obwohl du glaubst, daß Dek schuldig ist?"
"Ich weiß nicht, was du tun willst... Galbren wird ihn hängen lassen. Du kannst ihn nicht aus dem Kerker befreien. Aber wenn es dir gelingt, sein Leben zu retten... und wenn sich dann doch herausstellt, daß er schuldig ist... dann beiße ich seine Kehle durch und lasse seine Leiche an der tiefsten Stelle im Fluß verschwinden." Die Ratte starrte Khiray herausfordernd an.
Khiray lächelte. "Nichts weniger habe ich von dir erwartet."
Der Wald war düster und feucht. Eine regnerische Nacht hatte den Boden durchweicht, und noch immer fielen Tropfen von den Blättern. Khiray stapfte mißmutig durch den Morast des Weges. So weit abseits der Stadt waren die Staßen schlammige Pfade aus festgestampftem Lehm, voller Löcher und schlampig ausgebesserter Stellen.
Erde quoll zwischen seinen Zehen hervor. Er hatte darauf verzichtet, Schuhe anzuziehen; Stiefel, die seine Füße geschützt hätten, besaß er nicht, und seine Sandalen wollte er nicht ruinieren.
"Saljin?" rief er zum wiederholten Male. "Saljin von den Steinen?"
Er erhielt keine Antwort. Er war nun etliche Kilometer von der Stadt entfernt, hatte zwei Höfe passiert und sich durch einen kleinen Bach gekämpft, der nur durch eine Furt passierbar war. Aber von den Fuchstauren fand sich keine Spur.
Dies war die Straße, die am weitesten landeinwärts führte, vom Fluß weg und in die Richtung der Berge. Von hier waren die Fuchstauren gekommen, hierher würden sie sich wahrscheinlich auch wieder zurückgezogen haben. Die übrigen Straßen folgten dem Fluß, beschrieben Bögen um Sookandil, reichten nur bis zu kleinen Siedlungen inmitten von Feldern oder endeten im Nirgendwo der endlosen Wälder, Pfade der Jäger und Forstleute, Holzfäller und Kräutersammler. Es gab keinen Grund für die Fuchstauren, einen anderen Weg einzuschlagen, es sei denn, sie hielten sich wirklich inmitten der Wälder versteckt. Khiray konnte ihre Spuren nicht finden; der Regen hatte sie verwischt.
Sie mußten hier irgendwo sein. Khiray glaubte nicht, daß sie Dek so einfach seinem Schicksal überlassen hatten und in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Oder glaubten sie an Deks Schuld? Glaubten sie, daß er sein Los verdiente? Nein. Sie hatten eine eigene Auffassung von Gerechtigkeit. Selbst wenn sie Dek für schuldig hielten, selbst wenn sie wußten, daß er der Mörder war, würden sie ihn eher nach den eigenen Gesetzen verurteilen als den Felligen überlassen.
"Saljin! Verdammt, wo seid ihr bloß? Mikhoi! Ich muß mit euch reden!"
Ein lauter Plumps ließ ihn herumfahren. Einer der Fuchstauren -- nicht Saljin oder Mikhoi, sondern Halann -- stand hinter ihm. Er mußte aus dem Geäst gesprungen sein. Khiray hatte nicht gewußt, daß Fuchstauren mit ihren vier Beinen überhaupt klettern konnten.
"Was willst du von uns? Wo sind die anderen?"
"Welche anderen?" knurrte Khiray. Er schätzte es nicht, so unfreundlich empfangen zu werden. Schließlich kam er mit den besten Absichten... außer natürlich, daß seine guten Absichten in letzter Zeit zu immer übleren Ergebnissen geführt hatten.
"Willst du mir weismachen, du wärst allein gekommen?" Halann schwang beiläufig sein Dekka'shin.
"Nein. Ich habe die gesamten Garden von Sookandil mitgebracht. Hörst du sie nicht stampfen?"
Halann drehte sich nicht um. Nicht einmal seine Ohren zuckten. Er wußte, daß Khiray allein war, wahrscheinlich hatte er ihn schon eine ganze Weile beobachtet. "Komm mit."
Sie verließen den Pfad und durchquerten den Wald. Das Unterholz war weniger dicht, als es den Anschein hatte. Schon nach kurzer Zeit hatten sie eine Lichtung erreicht. Vor Jahren war hier ein Baumriese umgestürzt und hatte eine Lücke in das Dickicht der jüngeren Bäume gerissen. Niemand hatte den Stamm genutzt, und nun wuchsen Pilze und Moos auf dem Holz. Der modrige Geruch zerfallender Rinde hing in der Luft. Tiere hatten ihre Baue unter dem Rund des Stammes gegraben, das höher aufragte als Khirays Kopf.
Es wäre ein hübscher Ort gewesen, aber die Feuchtigkeit troff aus den Ästen, und der Boden war aufgeweicht und morastig.
Die Fuchstauren hatten hier ein Lager aufgeschlagen. An einem trockenen, erhöhten Fleck lagen Decken und lederne Taschen. Ein Teil davon kam Khiray unbekannt vor. Es schien, als hätten die Fuchstauren von Anfang an nicht all ihre Habe mit in die Stadt geschleppt, sondern hier in einem Versteck zurückgelassen.
Mehr Waffen, lederne Wämse, die fast wie Rüstungen aussahen. Die Teile -- gewölbte, mit metallenen Nieten versehene Lederstücke und Gurte aller Art -- schienen Khiray zuerst nichts zu sagen; er konnte nicht erkennen, wie sie zusammenpaßten. Dann sah er Mikhoi in voller Montur und verstand.
Die Fuchstauren rüsteten sich zur Schlacht.
Mikhoi trug eine Lederweste, die unter den Armen geschnürt wurde und mit kleinen metallenen Ringen auf Brust und Rücken versehen war. Der Fuchsteil seines Körpers war mit einer ähnlichen Weste versehen, die unter Brust und Bauch geschlossen wurde. Gurte hielten sie an ihrem Platz. Bewegliche Klappen schützten die Hinterhand und die Flanken. Die Arme und teilweise auch die Beine staken in metallbesetzten Stulpen. Schwanz und Pfoten lagen frei, aber über die Hände zogen sich Handschuhe bis zu den Ellbogen.
Der Fuchstaur sah in dieser Rüstung ein wenig seltsam aus, aber die Effektivität des Schutzes schien nicht geringer als bei den Uniformen der Garden. Zwar gab es ungeschützte Körperteile, aber ein Kompromiß zwischen Sicherheit und Beweglichkeit mußte wohl geschlossen werden. Dafür waren die einzelnen Lederstücke teilweise dicht besetzt mit verschränkten Ringen, vermutlich aus Trollstahl. Die Fuchstauren-Rüstung mochte vielleicht sogar den Garden-Uniformen überlegen sein. Aber Khiray wagte darüber kein Urteil abzugeben; seine Erfahrungen im Kampf beschränkten sich ohnehin auf Kneipenschlägereien, kleinere Überfälle verzweifelter Banditen am Fluß und die gelegentliche Meinungsverschiedenheit mit ertappten Dieben. Kriegswaffen und Rüstungen waren nie sein Metier gewesen.
"Ich sehe, wir haben einen Besucher", sagte Mikhoi und wirbelte sein Dekka'shin herum. Er trug noch weitere, kleinere Waffen im Gürtel, aber das Dekka'shin war offenbar die bevorzugte Waffe der Fuchstauren.
Die anderen hatten sich noch nicht gerüstet und trugen nur das nackte Fell. Saljin erhob sich, als sie Khiray sah.
"Bist du gekommen, um ein Blutgeld zu fordern?" fragte sie.
"Blutgeld? Nein, was immer das sein mag." Er schüttelte langsam den Kopf.
"Warum dann? Wenn du allein zu uns kommst, um Rache zu üben, bist du schlecht beraten." Die Fuchstaurin wirkte verwirrt.
"Nichts dergleichen. Ich muß mit euch sprechen. Über Dek."
"Es gibt nichts zu sagen", mischte sich Aryfaa ein. "Wir können ihn eurer Gerichtsbarkeit nicht überlassen. Gleich, ob er schuldig ist oder nicht, nur wir dürfen Recht über ihn sprechen."
"Ich glaube nicht, daß er es getan hat", sagte Khiray.
Die Köpfe der Fuchstauren ruckten hoch. "Wie?" fragte Mikhoi verblüfft.
"Er war es nicht. Es paßt nicht. Es gibt zu viele Ungereimtheiten. Und er hat nicht den Charakter dafür. Ich glaube es einfach nicht." Für einen Moment geriet seine Entschlossenheit ins Wanken. Waren die Fuchstauren womöglich selbst von Deks Schuld überzeugt?
Dann nickte Mikhoi bedächtig. "Sag uns, was du denkst. Wer war der Mörder?"
Hilflos zuckte Khiray die Achseln. "Ich weiß es nicht. Es könnte jeder gewesen sein. Jemand, der von den Waffen wußte. Jemand, der sie an sich bringen wollte, ehe sie in Galbrens Arsenal verschwanden." Mehr noch. Das Übernatürliche, das sich in Gestalt des Wurm-Beraters manifestiert hatte, konnte eine Rolle spielen. Aber von dieser Begegnung hatte Khiray niemandem ein Wort erzählt, nicht einmal Delley oder Pallys. Sie hätten ihn für verrückt gehalten.
"Wenn der wahre Mörder in Freiheit bleibt, wird Dek für seine Tat büßen müssen", sagte Aryfaa. "Wie sollen wir ihn finden?"
"Ich habe keine Ahnung", erwiderte Khiray. "Vielleicht gibt es etwas, das die Garden übersehen haben -- einen Hinweis, ein Indiz, das uns auf die richtige Spur bringt. Aber wir haben keine Zeit, danach zu suchen. Die Verhandlung gegen Dek ist noch heute."
"Das wissen wir", murmelte Saljin.
"Und Galbren ist weder zimperlich in seinem Urteil, noch wartet er lange bis zur Vollstreckung."
"Auch das ist uns wohlbekannt", grollte Mikhoi. "Was also sollen wir tun?"
Khiray nickte. "Wir müssen Galbren davon überzeugen, daß Dek unschuldig ist, oder wenigstens davon, daß er vielleicht unschuldig sein könnte. Er kann kein Urteil über ihn verhängen, und wir haben Zeit, nach dem wahren Mörder zu suchen." Er wandte sich an Saljin. "Kommst du mit mir in die Stadt, zur Verhandlung?"
"Das ist viel zu gefährlich", wandte Aryfaa ein. "Die Städter hassen uns."
Saljin blickte zu Boden. Khiray konnte sich vorstellen, was ihr durch den Kopf ging. Das Leben ihres Bruders stand auf dem Spiel.
"Ich komme mit dir", sagte sie schließlich. "Laß uns gehen."