Khiray sah zu Saljin hinüber. Er hatte Schwierigkeiten, mit ihrem lockeren Trab mitzuhalten. Die Fuchstauren waren für das Laufen geboren, während er selbst an lange Strecken nicht gewöhnt war. Das Leben auf einem Schiff hatte seine Nachteile.
"Was?"
Saljin breitete die Arme aus. Während die Felligen beim Laufen die Arme wie Pendel gegensätzlich zu den Beinen bewegten und meist noch den Schwanz als Ausgleich für ein besseres Gleichgewicht benutzten, schienen die Fuchstauren beliebig mit den Armen gestikulieren zu können. Natürlich, sie waren ja Vierbeiner; ihre Vorderbeine glichen den Bewegungsrhythmus aus. Ob sie im schnellen Lauf, im Galopp, Arme und Schwanz benötigten?
Seltsam, dachte Khiray. Warum fielen ihm gerade jetzt solche unwichtigen Kleinigkeiten auf?
"Alles", sagte Saljin. "Uns helfen. Dek retten. Du sprichst gegen dein eigenes Volk. Und das, obwohl du glauben mußt, daß er deinen Vater getötet hat."
"Ich glaube es eben nicht", knurrte Khiray. "Und wenn er es nicht war, dann läuft der wahre Mörder noch frei herum. Ihn will ich."
"Du würdest sonst nicht für uns sprechen?"
"Ich würde tun, was richtig ist." Khiray ging langsamer, und Saljin paßte sich seinem Schritt an. Er konnte nicht reden und gleichzeitig dieses Tempo durchhalten. Noch blieb genug Zeit. Galbren würde Dek nicht ohne eine Verhandlung hängen, soviel war sicher. "Es war nicht richtig, euch aus der Stadt zu jagen. Und es ist nicht richtig, was Onkel Farlin tut... Er hetzt die Leute gegen euch auf. Er will Gardist werden. Er ist wie verwandelt."
"Vielleicht ist er wirklich verwandelt?" Saljins Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an.
"Was meinst du?"
"In unserem Volk gibt es Fuchstauren mit besonderen Talenten -- Magier. Sie besitzen große Macht, können Verletzte und Kranke heilen und verseuchte Quellen wieder klar machen. Manche aber beeinflussen mit ihrer Macht andere, ihnen zu Willen zu sein. Ab und zu erhebt sich einer dieser Magier und strebt nach Macht über das Land der Fuchstauren. Dann versammeln sich die anderen Magier, um ihn zu Fall zu bringen. Erst vor hundert Jahren gab es einen... aber das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls könnte es doch sein, daß jemand deinem Onkel Gedanken eingegeben hat, die gar nicht die seinen sind!"
Khiray überlegte einen Moment. Magie gehörte nicht zu seinem unmittelbaren Erfahrungsbereich. All die technische Magie, die er gesehen hatte, sowohl im Armygan als auch bei den Men'schin, war für so etwas wie geistige Kontrolle ungeeignet. Aber der Wurm-Berater... er gehörte nicht zu den vertrauten Spielarten der Magie. Er war fremd, unsagbar fremd.
Aber vielleicht gab es gar keinen Zusammenhang, wie Khiray ihn sich einbildete. "Möglich", sagte er. "Aber andererseits standen sich er und mein Vater immer sehr nahe. Dieser Verlust hat ihn vielleicht so verändert."
Saljin blickte nachdenklich drein. "Wenn aber auch nur der Verdacht besteht, daß Magie im Spiel ist, müssen wir sehr vorsichtig sein. Magier sind gefährlich."
Khiray schüttelte den Kopf. "Wir haben keine Wahl, oder? Wir müssen zurück nach Sookandil und deinen Bruder verteidigen." Aber er hatte ein flaues Gefühl im Magen.
"Kleines Fellwesen. Bauer in einem Spiel, das du nicht verstehst, von dem du nichts ahnst." Er wußte immer noch nicht genug, um die Teile des Puzzles zusammenzufügen. Und das Spiel mochte sich schnell als tödlich erweisen.
Zu Khirays Überraschung wartete Pallys am Stadtrand auf sie. Er war der einzige Fellige in Sicht. Alle anderen, soweit sie nicht mit wichtiger Arbeit beschäftigt waren, schienen zur großen Stadthalle gegangen zu sein, um dem Prozeß beizuwohnen.
"Du solltest dir genau überlegen, was du sagst", sagte das Kaninchen.
"Woher weißt du, wohin ich gegangen bin?" fragte Khiray.
"Delley hat es mir gesagt. Ich wollte mit dir reden, aber du warst schon fort." Er musterte Saljin von oben bis unten. "Bist du sicher, daß das eine gute Idee ist?"
Saljin verschränkte die Arme. "Was soll das heißen?"
Das Kaninchen runzelte die Stirn und legte die Ohren an. "Es war noch nie besonders klug, sich auf einen Streit mit den Mächtigen einzulassen. Sich gegen die Garden zu stellen, ist ziemlich dumm, möchte ich meinen."
"Es geht um das Leben meines Bruders." Saljin blickte Pallys finster an.
"Wenn Galbren deinen Bruder verurteilen will, wird er es tun, ob du da bist oder nicht. Ihr könnt nichts sagen, was die Beweise entkräftet, ihr könnt euch allenfalls einen Feind machen."
"Schlägst du etwa vor, wir sollen uns verstecken, zusehen, wie er Dek hängt, und uns heimlich davonschleichen, mit dem Schwanz zwischen den Beinen?" brauste Khiray auf. "Das hätte ich von dir nicht erwartet!"
Pallys winkte ab. "Du hast noch nicht genug Erfahrung mit der Willkür der Mächtigen gesammelt, ich schon. Ich lebe schon sehr lange, und ich habe an vielen Orten und zu vielen Zeiten immer wieder dasselbe gesehen. Macht begründet Recht."
"Es gibt ein Gesetz im Armygan. Es gibt eine Gerechtigkeit." Khiray wußte nicht, was er von Pallys' Ausführungen halten sollte. Glaubte das Kaninchen etwa, daß Galbren ein persönliches Interesse daran hatte, Dek hängen zu sehen? Was sollte der Gouverneur davon haben?
Pallys lächelte schwach. Es war ein gleichermaßen grimmiges und resigniertes Lächeln. "Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe, würdest du auch nicht an Gerechtigkeit glauben. Jene, die herrschen, machen nicht nur die Gesetze. Sie sind das Gesetz."
"Selbst wenn." Khiray atmete tief durch. "Galbren hat keinen Grund, in dieser Sache anders als unparteiisch zu handeln. Die Waffen sind gefunden worden, und überhaupt hatte er sie noch nicht bezahlt. Er hat keinen Verlust erlitten. Und er hat ansonsten keine Beziehung zu den Fuchstauren."
"Trollstahl", sagte Pallys.
"Was?"
"Er will den Trollstahl für sich. Die Fuchstauren könnten das Wissen um diesen Stahl verbreiten. Wenn er sie ausschaltet und selbst Kontakt mit den Trollen aufnimmt, kann er seine Garden mit einzigartigen Waffen ausrüsten. Waffen, die niemand sonst im Armygan besitzt. Waffen, die selbst die Men'schin nicht haben!"
Khiray ging an Pallys vorbei und schlug den Weg zur Stadthalle ein. "Unsinn. Ich weiß vom Trollstahl. Hammyl weiß davon. Deso der Dachs. Farlin. Du. Alle, mit denen ich geredet habe, alle, mit denen ihr dann darüber gesprochen habt."
Pallys eilte wieder an seine Seite. "Nur ein paar Fellige. Und für sie ist es bis jetzt nur eine Kuriosität. Im Armygan herrscht schon seit so langer Zeit Frieden, daß neuen, besseren Waffen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird. Galbren kann seine Truppen nach und nach mit Trollstahl ausrüsten und die stärkste Streitmacht erhalten, die der Armygan je gesehen hat!"
Der junge Fuchs schüttelte den Kopf. "Das ergibt auch keinen Sinn. Wenn er eine solche Streitmacht besäße, was würde er damit tun wollen? Die Garden sind nicht für den Krieg ausgebildet..." Er erinnerte sich daran, was er und Delley gehört hatten. Das Training der Gardisten mutete in der Tat an wie die Vorbereitungen für einen Krieg. Unbehaglich sprach er weiter. "Sie haben keine Erfahrung in der Schlacht, es gibt keine Veteranen unter ihnen. Und es sind zu wenige, um gegen eine andere Stadt zu ziehen. Oder gegen die Men'schin."
"Auch mit dem Vorteil des Trollstahls?"
"Stahl ist nur so gut wie die Hand, die ihn führt", warf Saljin ein. "Ich weiß nicht, welche Dinge in dieser Stadt vorgehen. Aber eines weiß ich: um einen Krieg zu führen, braucht man mehr als nur Waffen."
Aber Khiray hatte das Gefühl, daß sie einer schrecklichen Wahrheit auf der Spur waren. Irgend einen Zweck mußten die zahlreichen Garden haben. "Aber Galbren muß Dek nicht hinrichten, um an den Trollstahl zu kommen. Die Fuchstauren kommen nur alle zehn Jahre hierher, wenn überhaupt, also steht es Galbren frei, selbst Handel mit den Trollen zu treiben. Nein, ich glaube nicht, daß er parteiisch ist."
Pallys zuckte die Achseln und ließ die Ohren abknicken. "Du wirst schon sehen. Aber selbst wenn Galbren hier kein eigenes Spiel spielt und als ehrlicher Richter auftritt, wird er Dek verurteilen. Die Beweise sind erdrückend."
"Dann glaubst du also an Deks Schuld?" fragte Saljin.
Pallys blieb stehen und sah die Fuchstaurin lange an. "Nein", sagte er schließlich. "Ich bin früher viel gewandert. Ich war auch Gast deines Volkes und habe seine Gebräuche studiert. Ihr müßtet euch sehr geändert haben, um einen feigen Mörder hervorzubringen."
"Ich habe nie etwas davon gehört, daß ein Kaninchen die Ebenen bereist hätte", entgegnete Saljin. "Nicht von meinem Stamm und nicht von anderen. Nicht einmal auf der Stammesversammlung. Vor fünfzig Jahren oder so war eine Gruppe Bären bei uns. Aber das letzte Kaninchen... das ist vierhundert Jahre her. Meine Urgroßmutter hat mir erzählt, was von Generation zu Generation weitergereicht wird. Es war ein Heiler, dieses Kaninchen, und es besaß ein wenig Magie. Es brachte viel Wissen um Kräuter und Medizin zu uns."
Pallys sagte nichts, sondern schloß wieder zu Khiray auf. Der Fuchs fragte: "Wenn du glaubst, daß Dek unschuldig ist, dann mußt du uns helfen."
"Ich habe dir schon gesagt, es ist nicht klug, sich auf eine Fehde mit den Mächtigen einzulassen", entgegnete Pallys heftig. "Das ist nicht mein Spiel, und auch nicht deines. Belade das Schiff und verschwinde von hier."
Khiray drehte sich ruckartig zu Pallys um und packte das Kaninchen an der Weste. Es wäre ihm früher nie eingefallen, den Lehrer so respektlos zu behandeln, aber dieses feige Geschwätz ließ Pallys in seiner Achtung stark sinken. "Das ist Kaninchenart, nicht wahr? Alles fallenlassen und fliehen! Aber es ist nicht Fuchs-Art! Irgendwo da draußen hockt der Mörder meines Vaters, und wenn Galbren Dek hängen läßt, wird er sich ins Fäustchen lachen! Aber ich schwöre dir: er lacht nicht mehr lange!" Er bleckte die Zähne und ließ ein drohendes Knurren hören, als sei Pallys der unbekannte Mörder.
Das Kaninchen machte sich von ihm los. "Kein Grund, gleich ausfallend zu werden! Gut, ich versuche, mit Galbren zu reden. Aber ich sage dir gleich, das ist eine schlechte Strategie!"
Khiray dachte an die Fuchstauren im Wald, die sich zur Schlacht rüsteten. Reden schien ihm nicht der schlechteste Weg, Dek zu helfen. Es gab Alternativen, die eher ins Desaster führen konnten.
Die große Stadthalle zählte zu den ältesten und gewaltigsten Gebäuden Sookandils. Ein Teil der Halle war jedoch unterirdisch angelegt, so daß die Ausmaße des Bauwerks erst offenbar wurden, wenn man das Innere betrat. Von außen war nur die höchste Kuppel zu sehen sowie die sechs rundherum angeordneten Eingangstore, jedes mit einem kleinen Glockenturm versehen. Im Inneren der Tore führten Treppen und Rampen abwärts.
Der Boden der kreisrunden Halle selbst lag fünfzehn Meter unter der Erde. Die Halle befand sich auf einem der großen Hügel, anderenfalls wäre der Wasserspiegel des Flusses über dem Bodenniveau gewesen und Feuchtigkeit in den Raum gesickert. Auch so schien es drei Probleme mit einem unterirdischen Bau zu geben: Grundwasser, Luft, Beleuchtung. Aber die Stadthalle war von Dachs-Magiern errichtet und ausgestattet worden, die mit diesen Schwierigkeiten wohlvertraut waren. Obgleich die Magie in diesem Bauwerk nicht offensichtlich war, schützten doch vielfältige Zauber den Raum.
Die Halle besaß den dreifachen Durchmesser der Kuppel, die oben sichtbar war. Was als Eingangstürme von den Straßen zugänglich war, stellte in der Tiefe einen Kreis hohler Säulen dar, die die Treppen bargen und das Gewölbe stützten. Das Zentrum dieses Kreises war ein erhöhtes Podest. Außerhalb der Säulen, im äußeren Ring, stiegen Sitzreihen trichterförmig an.
Von den Eingangssäulen konnte man die Sitzreihen hinaufsteigen -- hinter den Säulen befanden sich breite Stufen, keine Sitze, da man von dort sowieso nicht ins Zentrum blicken konnte -- und gelangte schließlich zu Emporen, die sich die Wände entlangzogen. Hier nahmen die Vornehmen und Reichen der Stadt Platz.
Das Zentrum wurde durch die Kuppel beleuchtet, die aus lichtdurchlässigem Kristall gefertigt war, oder alternativ von Lampenkränzen, die die Säulen umwanden. Die Geländer der Emporen trugen weitere magische Lampen. In der Halle konnte man naturgemäß keine Fackeln verwenden, die den Kristall verrußt und die Luft verschlechtert hätten.
Das Podest des Zentrums war großzügig und einfach gebaut. Drei Türen befanden sich versenkt im Podest, die in einen weiteren Raum noch unterhalb der Halle führten. Dieser Raum war mit weiteren Treppen mit einem Haus an der Oberfläche verbunden. Je nach Zweck konnte das Podest als Bühne, als Gerichtssaal, als Podium, oder was immer benötigt wurde, ausgestattet werden. Man hielt hier Bürgerversammlungen ab, saß zu Gericht, verlas Gesetze, versammelte sich zu festlichen Anlässen oder lauschte den Predigten der Priester.
Die Stadthalle bot zweitausend Felligen Platz, nicht eingerechnet die Emporen, auf denen noch einmal hundertfünzig Personen unterkamen. Das war nicht annähernd die Bevölkerung der Stadt, aber normalerweise genügte es, um allen Interessierten die Teilnahme an einer Veranstaltung zu ermöglichen. In diesem Fall jedoch, sah Khiray, reichte die Kapazität der Halle bei weitem nicht aus. Hunderte von Felligen hatten sich draußen um die Kuppel versammelt, die offenbar im Inneren keinen Platz mehr gefunden hatten. Einige hatten sich auf die Kuppel selbst gewagt und spähten durch den Kristall ins Innere. Murmelnde, diskutierende Gruppen drängten sich in den Straßen. Gardisten standen herum, um die Ordnung zu bewahren. Die halbe Einwohnerschaft von Sookandil schien hier zu sein, von den ärmsten Tagelöhnern bis zu den reichen Kaufleuten. Die Tatsache, daß selbst wohlhabende Bürger vor den Türmen warten mußten, statt ihre Plätze auf den Emporen einzunehmen, deutete darauf hin, daß die Halle weit überbelegt war.
Als die ersten Khiray, Saljin und Pallys sahen, wurde die Unruhe schnell größer. Niemand hob eine Hand gegen die Fuchstaurin, aber die ersten Beschimpfungen erklangen aus der Menge. Eine Gasse öffnete sich für die drei, ohne daß die Gardisten jemanden zurückdrängen mußten; ob aus Furcht oder Abscheu vor der Fuchstaurin, konnte Khiray nicht sagen.
Sie betraten einen Eingangsturm und bahnten sich einen Weg hinab in die Halle. Selbst auf den Stufen im Inneren der Säulen saßen Fellige, obgleich sie nichts sehen konnten.
Wie Khiray erwartet hatte, war die Halle überfüllt. Das Rauschen der Ventilatoren, die die Luftschächte speisten, ging völlig unter im Gemurmel und Flüstern, Rauschen und Regen der Menge. Die Frischluftzufuhr konnte die Gerüche der Felligen nicht verdrängen; ohne hinzusehen wußte Khiray, daß alle Rassen, Altersgruppen, Geschlechter und soziale Ebenen vertreten waren. Er konnte Zorn riechen, Aufruhr, Empörung, aber auch Furcht.
Das Podest war als Gerichtsstand zurechtgemacht. Der Stuhl des obersten Richters -- in diesem Falle Galbren, da Sookandil nicht groß genug für einen eigenen Richter war -- stand erhöht, umgeben von weiteren Sitzen für Ankläger, Verteidiger und Zeugen. Die Verhandlung hatte noch nicht begonnen, und alle Sitze waren leer.
"Khiray! He, hierher!" Khiray hörte Delleys Stimme. Die Ratte saß in der ersten Reihe der Zuschauer -- auf dem Boden, denn die Sitzplätze waren drängend voll; die Stufen zu den Emporen waren belegt, und auf jeden Platz kamen mindestens zwei Fellige, die ihn sich teilten.
Als die Menge Saljins ansichtig wurde, verwandelte sich die Halle in ein Tollhaus. Was vorher Gemurmel war, wurde zu einem einzigen unartikulierten Aufschrei. Fäuste reckten sich in die Luft. Khiray konnte nicht verstehen, was die Menge rief, aber er brauchte es auch nicht.
Niemand verließ jedoch seinen Platz. Die Menge wich vor Saljin zurück, trotz der Enge, und keiner machte Anstalten, sie körperlich anzugreifen.
In Delleys Nähe befand sich auch der Rest der Mannschaft der 'Silbernen Ansicc'. Khiray stellte betrübt fest, daß auch sie sich mit der ebbenden Menge zurückzogen, bis er, Delley, Saljin und Pallys eine leere Insel in der Halle besetzten, von allen Augen angestarrt. Farlin war nirgends zu sehen.
"Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war." Delley musterte besorgt die Menge, als erwarte er, daß sie jeden Moment angegriffen und in Stücke gerissen würden.
"Ich weiß, daß es keine gute Idee war", entgegnete Pallys. Seine Ohren zuckten nervös von einer Seite auf die andere.
Ehe Khiray die beiden zurechtweisen konnte, öffneten sich die versenkten Türen im Sockel des Podestes, und ein Trupp Gardisten marschierte heraus. Zwischen sich führten sie Dek, in schweren Ketten gefangen. Sie schritten die Treppen zum Podest hinauf und erstarrten in Habachtstellung.
Hinter diesen Gardisten kam ein weiterer Trupp von zwanzig Mann. Diese waren jedoch nicht in die übliche Uniform gekleidet, sondern mit roten Wämsern, roten Hosen, roten Umhängen und Helmen mit roten Borten angetan. Sie waren schwer bewaffnet: Schwerter, Messer, Lanzen.
"Elitetruppen" hörte Khiray jemanden flüstern. Das Gemurmel erstarb und machte erwartungsvollem Schweigen Platz.
Elitetruppen? In einer kleinen Stadt am Rande der Zivilisation? Khiray war versucht, laut zu lachen.
Bei Theateraufführungen wurde der Raum unterhalb des Podestes von den Schauspielern genutzt, um Requisiten aufzubewahren und sich umzukleiden. Nichts anderes konnte er hier sehen: eine Theateraufführung. Vielleicht wäre das Schauspiel der Elitetruppen, die rings um das Podest marschierten und dann dort Aufstellung bezogen, eindrucksvoller gewesen, wäre nicht jemand Anführer dieses Trupps gewesen, den Khiray kannte.
Farlin.
Sein Onkel im Rot der Truppen, behängt mit Waffen, die er wahrscheinlich nicht richtig führen konnte -- er war Händler, kein Soldat!
Dann erschien Galbren, würdevoll in Richterkleidung, den bunten, bestickten Mantel über die goldene Schärpe drapiert. Er trug hohe Stiefel als Zeichen der Herrschaft sowie die gefiederte Mütze, die ein Symbol der Gerechtigkeit war. Khiray fragte sich, ob es wirklich Gerechtigkeit war, die hier geübt werden sollte.
Sehr langsam und bedächtig schritt Galbren zum Podest empor und gab jedermann Gelegenheit, die Stickereien auf seinem Mantel zu bewundern. Niemand sollte an seiner Würde zweifeln. Oben angekommen, nahm er im Richterstuhl Platz und klatschte in die Hände.
Wo war der Ankläger? Wo blieb der Verteidiger?
"Wir haben uns heute hier versammelt, um Recht zu sprechen", sagte Galbren. Die Stadthalle besaß eine hervorragende Akustik, so daß man seine Worte bis ins hinterste Rund des Halle vernehmen konnte. "Der Angeklagte ist Dek der Fuchstaur, die Anklage lautet auf Mord. Das Opfer ist Saswin der Fuchs, Händler auf dem Schiff 'Silberner Ansicc'. Man lasse die Verhandlung beginnen."
"Wo ist der Ankläger?" fragte Khiray halblaut und fuhr zusammen. Seine Stimme war überall zu hören -- nicht zuletzt auf dem Podium.
Galbren hob eine Augenbraue und stellte die Ohren steil auf. "Ich bin der Ankläger. Nach reiflichem Studium der Beweise bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß keine formale Anklage nötig ist. Diese Verhandlung wird nicht lange dauern. Und nebenbei, da sich niemand bereitgefunden hat, für Dek den Fuchstauren zu sprechen, ist auch kein Verteidiger vorhanden."
"Wie kann eine Verhandlung stattfinden, wenn weder Ankläger noch Verteidiger anwesend sind?" Khiray erhob sich. "Wie kann der Gerechtigkeit gedient werden, wenn niemand da ist, um für den Angeklagten zu sprechen?"
Galbren stützte sich auf die Hände. "Händler Khiray, gemäß den Gesetzen des Armygan sind nur zwei Personen nötig, um Recht zu sprechen. Ein Angeklagter -- den haben wir hier." Er wies auf Dek. "Und ein Richter, das bin ich. Dies ist eine kleine Stadt; wir haben weder formelle Ankläger noch Verteidiger. Wäre ich im Zweifel darüber, wie das Urteil aussehen wird, würde ich solche anfordern und mit der Verhandlung einige Wochen warten. Aber dem ist nicht so. Es gibt keinen Zweifel an der Schuld des Angeklagten."
"Ich sehe nicht, welchem Zweck eine Verhandlung dient, wenn der Richter -- der gleichzeitig auch der Gouverneur und ein mächtiger Händler ist -- bereits im Voraus das Urteil gefällt hat." Khiray ging langsam auf das Podest zu.
"Diese Verhandlung soll lediglich die Beweise für die Schuld des Delinquenten für jedermann offensichtlich darlegen." Galbren lächelte ein wenig. Man konnte seine Zähne sehen. "Ich bin der Herr über diese Stadt, wie mein Vater vor mir. Ich diene Sookandil und dem Armygan loyal und ohne Zweifel. Ich bin der Gouverneur und der oberste Richter hier, und ich spreche Recht, wie es seit tausend Jahren Sitte ist. Es ist immer so gewesen, und es ist gut so.
Recht zu sprechen ist eine Frage der Erfahrung. Ich bin stets bemüht, die Urteile so zu fällen, daß niemand über Gebühr darunter leidet, daß jeder die Gerechtigkeit erkennt, die in dem Urteil liegt, und daß jede Wiederholung der Tat vermieden wird. Mehr noch, ich schlichte jeden Streit, so daß es nach Möglichkeit gar nicht erst zu einem Verbrechen kommt.
Gewöhnlich braucht das Gesetz keinen Ankläger und keinen Verteidiger. Nur manchmal, wenn in einer Tat der Schuldige nicht sofort feststeht, oder wenn der Täter aus anderen Motiven als Zorn, Habsucht oder Gier gehandelt hat, benötigen wir das Zwiegespräch von Anklage und Verteidigung, um jedes Detail, jedes Motiv, jeden Hinweis von allen Seiten her beleuchten zu können.
Würden wir in jedem Falle einen Verteidiger benötigen, gäbe es für viele niemals ein Urteil, weil ihre Tat so verabscheuungswürdig ist, daß niemand bereit wäre, diesen Täter zu verteidigen.
In diesem Falle gibt es keine Fragen mehr. Ich werde in dieser Verhandlung darlegen, warum Dek schuldig ist, und das Urteil verkünden. Das ist alles."
Khiray schüttelte den Kopf. "Nein. Das genügt nicht. Wenn nun der Angeklagte nicht schuldig ist, aber der Richter von seiner Schuld überzeugt ist, wie soll dann Gerechtigkeit geübt werden?"
Galbren beugte sich vor. "Es ist vorgekommen, daß man versucht hat, einen Richter zu täuschen, und hier, wo uns kein Magier zur Verfügung steht, der Lüge und Wahrheit auseinanderhalten kann, mag das noch öfter der Fall sein als unten in der Hauptstadt. Aber eine vollkommene Täuschung ist schwer zu bewerkstelligen, und die volle Härte des Gesetzes trifft die, die bei einem solchen Versuch ertappt werden.
Der einzige Grund, aus dem ich das Urteil bereits kenne, ist, daß ich auch die Beweise bereits eingesehen habe. Ich bin den Fuchstauren weder Feind noch Freund. Ich habe in diesem Fall kein Interesse außer der Wahrheit. Und die Wahrheit liegt für jedermann offen zutage, der alle Details kennt. Händler Khiray, ich bin etwas überrascht, daß Ihr versucht, diese Verhandlung zu stören. Es geht immerhin darum, den Mörder Eures Vaters zu verurteilen."
Khiray starrte Galbren eine Zeitlang an. Das Schweigen im Publikum umgab ihn wie eine feste Mauer, trennte ihn von allem: seinen Freunden, seiner Stadt, seiner Vergangenheit. Er hatte das Gefühl, seine Gedanken seien Ochsen, die durch Sirup waten. Er wollte sprechen, die Stimme der Vernunft erklingen lassen. Aber die Stille erstickte ihn.
"Wenn niemand für Dek den Fuchstauren spricht", sagte er schließlich, "werde ich es tun. Ich bin der Verteidiger."
Galbren verzog seine Miene. Für einen Moment ließ er sein ganzes Gebiß sehen und legte die Ohren flach an. "Ihr meint, Ihr wollt die Stelle des Anklägers übernehmen."
"Des Verteidigers", wiederholte Khiray.
Der Gouverneur seufzte für jedermann hörbar. "Händler Khiray, ich habe Euch schon einmal davor gewarnt, Euch zu eng mit Fremden einzulassen -- Fremde aus einer unbekannten Rasse, Fremde mit unbekannten Motiven. Ich kann meine Warnung nur wiederholen. Ihr werdet eines Tages einen Schritt zu weit gehen. Für Euch mag es alltäglich sein, mit Fremden und sogar Men'schin umzugehen. Aber die guten Bürger hier teilen Eure Ansichten vielleicht nicht. Und mit Verlaub, die Tatsache, daß Ihr bereit seid, den Mörder Eures Vaters zu verteidigen, läßt mich an Eurer Loyalität gegenüber dem Armygan zweifeln. Vielleicht seht Ihr es nicht so, aber in meinen Augen seid Ihr schon einen Schritt zu weit gegangen."
Khiray konnte nicht glauben, was Galbren da umschrieb. Hatte der Gouverneur ihn eben mit höflichen Worten des Verrats bezichtigt?
"Ich bin der Verteidiger", murmelte er nur, während er auf das Podest stieg. "Ihr mögt an meinen Motiven zweifeln, aber ich versuche nur der Gerechtigkeit zu dienen. Wie Ihr auch." Wie Galbren? Diente Galbren wirklich der Gerechtigkeit, wenn er das Urteil über einen Angeklagten schon im Voraus fällte? Es mochte im Einklang mit den Gesetzen sein, aber vielleicht waren die Gesetze nicht immer im Sinne der Gerechtigkeit.
Zum ersten Mal in seinem Leben fiel Khiray auf, welche Macht die Richter besaßen. Sie konnten das Gesetz nach eigenem Gutdünken auslegen und interpretieren. Sie waren niemandem verpflichtet außer dem Drunfürsten im fernen Drun'kaal, der sich nicht um jedes Urteil im Armygan kümmern konnte, und legten niemandem Rechenschaft ab. Wenn der Richter zugleich auch der Gouverneur war sowie Händler mit ganz eigenen Interessen, die mit Gerechtigkeit nicht viel zu tun hatten...
Viele Dinge im Armygan schienen verbesserungsbedürftig. Aber dies war weder der Platz noch die Zeit, solche Dinge zur Sprache zu bringen. Die Menge murmelte erbost. Khiray wurde gewahr, daß er sich hier vor der ganzen Stadt bloßstellte. Wie immer dieser Tag enden mochte, gute Geschäfte würde er in Sookandil niemals mehr machen.
"So sei es", sagte Galbren. "Ihr mögt für den Fuchstauren sprechen." Langsam schüttelte er den Kopf. "Ich verstehe nicht, was Euch dazu bewegt, aber Euer Wille sei mir Befehl." Er gab einem der Gardisten einen Wink, der daraufhin wieder in die Kammer unter dem Podest eilte. "Wenn ein Verteidiger vorhanden ist, sollte auch ein Ankläger präsent sein. Ich hoffe, Euren Vorstellungen von einem fairen Gericht sind damit Genüge getan. Oder sollte ich noch ein Dutzend Felliger herbitten, die über Schuld und Unschuld des Angeklagten entscheiden?"
Galbrens Sarkasmus tropfte von Khiray ab. Der junge Fuchs wußte, daß er das Richtige tat. Es würde ihn seine Geschäfte kosten... seinen Ruf... vielleicht sein Erbe. Aber es war das einzige, was ihm zu tun blieb. Er mußte das Rätsel lösen, das Puzzle richtig zusammensetzen, oder er würde nie wieder mit sich in Frieden leben können.
Eine verhüllte Gestalt erschien am Rand des Podestes.
Es war der Berater des Gouverneurs, das Wurm-Wesen. Khiray schnappte nach Luft. Wie konnte die magische Kreatur es wagen, hier erneut zu erscheinen, inmitten Tausender Felliger? Er brauchte nur einen Schritt zu tun, dem Wesen die Kapuze herunterziehen, und für alle würde offenbar werden, mit was sich Galbren eingelassen hatte.
Aber er kam nicht einmal dazu, seine Hand auszustrecken. Der Berater schlug von selbst seine Kapuze zurück und offenbarte das weiße, haarlose Gesicht eines Men'schin. Da waren keine Würmer, Maden oder Egel. Der Berater lächelte ihn freundlich an.
Durch die Menge ging ein Raunen. Men'schin ließen sich nie in Sookandil blicken. Drun'kaal und die anderen Küstenstädte wurden gelegentlich von Men'schin-Schiffen angefahren, die Vorräte auffüllten oder Reparaturen vornehmen ließen, aber so weit ins Binnenland kamen sie nicht. Und der Handel mit den Bergstädten wurde allein von Felligen unternommen; Men'schin-Händler machten sich die Mühe nicht. Die meisten der Anwesenden in der Stadthalle hatten wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch keinen Men'schin gesehen.
Khiray runzelte die Stirn und ignorierte die Unruhe. War dies wirklich dasselbe Wesen, das ihm in jener Nacht draußen vor der Stadt begegnet war? War umgekehrt die Wurm-Kreatur tatsächlich Galbrens Berater gewesen? Dafür hatte er keinen Beleg, es war seine eigene Vermutung gewesen. Das Wurmding hatte sich nie als Galbrens Berater ausgegeben. Mißtrauisch beäugte der Fuchs den Men'schin.
Hatte das Wurmwesen ihn von Anfang an genarrt?
Galbren klatschte abermals in die Hände. "Mein Berater, Alfon Sanass. Die meisten von euch haben bereits von ihm gehört, aber die wenigsten dürften ihn schon kennengelernt haben." Alfon verneigte sich. Er war noch eine Handbreit größer als Galbren selbst und schien recht dünn zu sein -- die Robe verbarg seine tatsächliche Statur.
"Viele von euch werden sich wundern, weshalb ein Men'schin als mein Berater fungiert, zumal ich mich wieder und wieder gegen die Zunahme der Zahl von Fremden in unserem Land gewendet habe", fuhr Galbren fort. "Nun, Alfon Sanass kam vor etwa einem halben Jahr zu mir und bat um eine Unterredung. In seiner Heimatstadt, Hanmur, hatte er die Position eines Kanzlers inne und war als solcher in zahlreiche Geheimnisse seiner Regierung eingeweiht."
Der Men'schin nickte und deutete eine Verbeugung an. "Ich hatte Zugang zu allen Plänen, allen Vorhaben des Rates von Hanmur. Ohne nun jemanden beunruhigen zu wollen -- es gibt Gruppen unter den Menschen, die von der Anwesenheit der Felligen im Armygan nicht allzu begeistert sind." Natürlich brach sofort unruhiges Gemurmel unter den Zuhörern aus. "Der Armygan ist ein reiches Land, die Natur voller Schätze. Und die allgemeine Meinung ist, daß das Land den Menschen gehört, nicht den Felligen." Das Gemurmel wurde so laut, daß man den Berater kaum mehr verstehen konnte. "Nicht, daß irgendwelche Pläne auf Krieg hindeuten, schließlich gibt es kaum Kontakt zwischen beiden Völkern. Aber der Rat von Hanmur hat neue Siedlungspläne beschlossen, die fast das gesamte Land zwischen Sookandil und den Menschen-Gebieten umfassen."
Khiray war sprachlos. Waren das Erfindungen, Lügen des Beraters, um die Felligen zu verwirren? Oder entsprach es womöglich der Wahrheit?
Ein Spiel, das er nicht verstand... Die Äußerungen des Wurmwesens schienen in diesem Zusammenhang Sinn zu ergeben. Ein Spiel der Politik, der Geheimnisse, des Verrats und der Spionage. Ein Spiel, das früher oder später auf eine direkte Konfrontation zwischen Men'schin und Felligen hinauslief.
Der bloße Gedanke daran war mehr als beunruhigend. Hinter den Men'schin stand eine jahrtausendelange Erfahrung im Krieg und ein schier unbegrenztes Nachschubpotential. Die Felligen waren über den ganzen Armygan verstreut, der nur dünn besiedelt war, Individualisten, denen der Gedanke an Armeen und Generäle weitgehend fremd war. Der Armygan besaß kein reguläres Heer, und es bestand keinerlei Verbindung zur fernen Heimat, aus der die Felligen vor mehr als tausend Jahren gekommen waren.
Krieg war schlecht genug. Aber wenn gar keine Aussicht bestand, ihn zu gewinnen... Was sollte aus den Felligen werden, wenn die Men'schin wirklich den Armygan als ihr Eigentum beanspruchten? Heute, morgen, in hundert oder tausend Jahren?
Galbren begann, auf den Tisch zu klopfen, bis der Lärm erstarb. "Bitte, laßt Alfon ausreden."
Der Berater wandte sich wieder an die Menge. "Ich bin immer ein Mann des Friedens gewesen. Ich glaube, daß die Ansprüche des Rates überzogen und ungerechtfertigt sind. Die bestehenden Grenzen sollten nicht verändert werden, auch wenn die Felligen noch keinen Gebrauch von ihrem Land zwischen hier und den Menschen-Gebieten gemacht haben. Früher oder später muß ein Vorgehen, wie der Rat es jetzt propagiert, zum direkten Konflikt führen, und dafür besteht keine Notwendigkeit. Daher habe ich Sookandil als erste Stadt diesseits der Grenze aufgesucht, um die Felligen vor diesen Plänen zu warnen."
"Wir sind Euch äußerst dankbar dafür, Alfon", erwiderte Galbren. "Persönlich habe ich derartige Pläne schon seit langem erwartet. Der Armygan ist schwach geworden. Er hat seit langem keine Stärke mehr gezeigt, keine Entschlossenheit, keine Durchsetzungskraft. Unten in der Hauptstadt sitzen die Bürokraten, die unsere Steuern in Empfang nehmen und dafür nichts tun. Eine aristokratische Elite beherrscht unser Land, die seit Jahrhunderten dick, satt und verfressen ist und nach mehr, mehr, mehr giert. Wie viele Monate gehen ins Land, ehe auch nur eine unserer Anfragen aus der Hauptstadt beantwortet wird? Wie lange dauert es heute, bis eine Straße gebaut, eine Siedlung gegründet wird, bis man gegen impertinente Fremde vorgeht, die sich in unser Vertrauen schleichen und Bürger heimtückisch ermorden?" Galbrens Blick fiel auf Dek.
Aber Dek reagierte nicht. Er hielt die Augen halb geschlossen und den Kopf gesenkt, als sei es ihm egal, was mit ihm geschah.
"Drun'kaal ist schwach und verweichlicht geworden!" rief Galbren in die Menge. "Der Drunfürst hat sein Recht auf Herrschaft schon vor Jahrhunderten verspielt! Wir, die wir an der Grenze im wilden Land leben, müssen uns von Tag zu Tag neu beweisen, unsere Stärke, unseren Mut, unsere Fähigkeiten. Wir müssen uns den Herausforderungen der Wildnis stellen. Dort unten in der Hauptstadt regieren Dummköpfe und Blinde! Eines Tages wird jemand kommen, der den Drunfürsten in seine Schranken weist, und es sollte bald geschehen, denn die Men'schin schlafen nicht! Nur, wenn wir ihnen unsere ganze Entschlossenheit entgegenstellen, werden sie von ihren machtgierigen Plänen absehen."
Eines Tages? Jemand? Khiray hatte das dumpfe Gefühl, daß Galbren sich selbst meinte.
Aber das konnte nicht -- durfte nicht sein! Was Galbren hier andeutete, war nichts anderes als Verrat am Drunfürsten. Wenn der Gouverneur sich von Drun'kaal lossagte und die Zahlung von Steuern einstellte, würde der Drunfürst ihm seine Truppen auf den Hals hetzen. Kooradah mochte keine Armee besitzen, wie die Men'schin es verstanden, aber seine Garden waren zahlreich und effektiv.
Oder meinte Galbren mehr als nur eine Trennung vom Armygan? Meinte er einen Umsturz, eine Revolution, eine Machtergreifung? Unmöglich. Khiray war sich sicher, daß Galbren nie genug Truppen dafür auftreiben konnte.
Wie auch immer, Verrat war Verrat, auch wenn Galbren seine Pläne hinter einer Maske aus Konjunktiven verbarg. Der Gouverneur war ein geschickter Rhetoriker.
"Wir sind nicht hier, um die Zukunft des Armygan zu beklagen", fuhr Galbren fort, "sondern um Recht zu sprechen und ein Urteil zu fällen. Ein Urteil über diesen Fuchstauren namens Dek." Er wies auf den Angeklagten. Die Menge grollte. "Da Bürger und Händler Khiray sich freundlicherweise bereiterklärt hat, den Verteidiger zu stellen" -- sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie er es meinte -- "wird Alfon Sanass die Rolle des Anklägers spielen. Er ist gründlich in alle Details dieses Falles eingeweiht. So möge denn diese Verhandlung in jedem Punkte dem Gesetz entsprechen." Er nickte seinem Berater zu.
Alfon Sanass nahm einen Platz neben Khiray ein. Er lächelte. Khiray hatte nie zuvor gedacht, daß ein Men'schin-Lächeln -- so ganz bar aller Reißzähne -- drohend wirken könnte, aber diesmal war es so.
Der junge Fuchs fragte sich, ob er gegen diesen Berater -- gleich, ob es nur eine neue Maske des Wurmwesens war oder wirklich ein Men'schin -- überhaupt eine Chance hatte.
Die Behauptung, die Beweise seien überwältigend, war noch eine Untertreibung. Alfon Sanass verstand es, allen Zeugen Aussagen zu entlocken, die gegen Dek sprachen, und es gab viele davon.
Die ersten Zeugen waren Besucher der Bar, in der Dek fast eine Schlägerei angezettelt hatte. Ein Hirsch, ein Wolf und eine Ratte sagten übereinstimmend aus, daß Dek Khiray bedroht hatte, obgleich dieser die Zeche für die Fuchstauren begleichen wollte. Der Barkeeper erging sich in einer langatmigen Litanei über das Benehmen von Fremden.
"Er hat mich bedroht", versuchte Khiray richtigzustellen, "nicht meinen Vater. Wenn dieses unglückliche Ereignis überhaupt ein Beweis für irgend etwas sein sollte, dann müßte ich das Opfer sein, oder?"
Alfon verschränkte die Arme. "Vielleicht. Was aber jedem Anwesenden völlig klar geworden ist, ist, daß der Angeklagte betrunken nicht mehr fähig ist, die Kontrolle über sich zu bewahren. Und daß er dem Charakter nach durchaus fähig ist, einen Mord zu begehen."
Dagegen konnte Khiray nichts einwenden. Es war eine unangenehme Situation gewesen. Und wenn Dek wirklich mit diesem Stuhlbein zugeschlagen hätte...
Die nächsten Aufgerufenen waren ein junges Kaninchenpaar und ein paar Fellige, an die Khiray sich nicht mehr erinnern konnte. Sie waren Zeugen gewesen, als Dek sich am Stand der Fuchstauren auf Khiray stürzen wollte.
"Er hat gerufen: 'Ich töte ihn!', ganz sicher", sagte das männliche Kaninchen. "Wir sind sofort untergetaucht. Er hatte eine Waffe!"
Alfon blickte den Zeugen prüfend an. "Könnte er es als Witz gemeint haben, unter Freunden?"
Das Kaninchen warf einen furchtsamen Seitenblick auf Dek, der sich jedoch seit dem Beginn der Verhandlung nicht gerührt hatte. "Nein. Er wollte den Fuchs ermorden, ganz sicher. Die anderen Fremden mußten ihn festhalten, sonst hätte er seinen Schädel gespalten." Er runzelte die Nase. "Ich verstehe nicht... warum ist der Fuchs sein Verteidiger?"
Der Men'schin schüttelte den Kopf. "Bitte beantworte nur meine Fragen."
Khiray stöhnte innerlich. Auch an dieser Episode konnte es keinen Zweifel geben, und auch sie ließ an Dek kein gutes Haar. Natürlich waren sich die Zeugen auch hier völlig einig.
"Einen Moment", sagte er. "Ich hätte dazu noch eine Szene beizutragen."
"Bitte", sagte Alfon reserviert.
Khiray erzählte, was sich an dem Abend ereignet hatte, als er Dek und Saljin beim Üben mit den Dekka'shin zugesehen hatte. Als er an der Stelle ankam, wie Dek ihn angegriffen hatte, bemerkte er, wie mehr und mehr Fellige im Saal die Augenbrauen hoben.
"Aber darum geht es nicht", sagte er hastig. "Ich meine, er hätte mich bei der Gelegenheit töten können, fast ohne Zeugen. Wenn er es gewollt hätte. Aber er hat es nicht getan. In Wahrheit würde er mir nichts zuleide tun, er ist nur etwas aufbrausend."
"Aha", sagte Alfon, und Khiray wußte, daß seine Schilderung das Gegenteil bewirkt hatte. Die Felligen und der Men'schin nahmen Deks Verhalten nicht als Beweis, daß der Fuchstaur seine Aggressivität nur vorschob, sondern dafür, daß er einen besonderen Haß auf Khiray pflegte.
Die nächste Zeugin war eine ältere Ratte. Sie hatte einen billigen Schnapsladen und eine kleine Brennerei.
"Ja, der Fuchstaur hat bei mir gekauft." Sie schnüffelte ein wenig. "Hat immer viel Wesens um die Preise gemacht. Dabei bin ich wirklich preiswert." Sie begann damit, aufzuzählen, wie billig ihr Schnaps sei.
"Mehr ist der Rachenbrenner auch nicht wert", rief jemand aus dem Publikum, ehe Alfon den Mund öffnen konnte, und die Ratte schwieg beleidigt.
"Hat der Angeklagte auch in der Mordnacht Schnaps gekauft?" wollte der Ankläger wissen.
Die Ratte legte die Ohren an. "Ja. Hatte schon einen sitzen, muß ich sagen." Das war das erste, was Khiray aus dieser Nacht hörte. Bislang hatte er nur gewußt, daß Dek verschwunden gewesen war. "Hat eine große Flasche mitgenommen."
"Er war also schon betrunken."
"Das hab' ich doch gesagt."
"Und er hatte wohl nicht vor, mit dem Trinken aufzuhören?"
Die Ratte schielte Alfon an. "Na hör mal, Haarloser! Wenn man abends noch hingeht und 'ne Flasche kauft, will mal wohl nich' die Nacht über Abstinenz üben!" Sie benutzte das Wort 'Abstinenz' wie eine Beleidigung. Khiray fragte sich, wo sie es überhaupt aufgeschnappt haben mochte.
Alfon setzte sich. "Wir wissen also nun, daß der Angeklagte in der Mordnacht betrunken war und vermutlich noch mehr getrunken hat. Wir wissen auch, daß er unter Alkoholeinfluß gewalttätig wird. Und daß er wegen eines mysteriösen Waffengeschäfts einen unbezähmbaren Haß auf den Händler Khiray hatte." Er ließ seine Worte gründlich einwirken. "Händler Khiray -- oder sollte ich sagen, Verteidiger Khiray --, würdet Ihr bitte dieses Geschäft näher schildern?"
Widerwillig beschrieb Khiray, worum es eigentlich ging. Er ließ auch die Episoden nicht aus, daß er den Fuchstauren einen Anteil am Profit angeboten hatte, und daß die Waffen schon an Galbren verkauft waren. Irgendwoher würde Alfon sicher einen Zeugen zaubern können, der diese Details ergänzte, falls er selbst sie verschwieg. Aber er war sich dessen bewußt, daß er Dek immer schlechter und schlechter aussehen ließ.
Alfon vernahm noch Garden, Passanten, Händler, kurz alle, die etwas über Dek zu sagen wußten. Ein Gardist erklärte, wo er die gestohlenen Waffen im Wald gefunden hatte, notdürftig versteckt. Khiray hörte nur mit halbem Ohr zu. Ja, es war wahr; Dek war aufbrausend und störrisch, ja, er hatte ihn bedroht, aber warum dann der Mord an Saswin?
Andererseits -- war Dek als Täter wirklich undenkbar? Khiray schauderte. Konnten seine Gefühle ihn so sehr trügen?
Alfons letzter Zeuge war der Arzt, der Saswins Tod bestätigt hatte, ein alter Dachs mit Brille und eisgrauem Fell. Die typische Fellzeichnung war fast völlig verblaßt, und die Stimme des Doktors zitterte etwas. Khiray erinnerte sich: Doktor Pargenn. Der Dachs hatte auch ihn einmal behandelt. Er mochte alt sein, aber seine Integrität und Fähigkeit war war nicht in Frage zu stellen.
"Ich weiß nicht, ob überhaupt ein Zweifel bezüglich der Mordwaffe herrscht", sagte der Dachs. "Immerhin steckte sie ja noch in Saswins Rücken. Aber da man mich schon mal fragt, ja, es war dieses Messer."
Alfon legte den Dolch aus Trollstahl beiseite, den er Pargenn gezeigt hatte. "Gibt es etwas Besonderes zu bemerken?"
Pargenn rieb sich das Kinn. "Oh, eigentlich nicht. Das heißt, es ist ungewöhnlich, aber..."
"Was ist ungewöhnlich, Doktor?"
"Die Waffe wurde von hinten in Saswins Rücken gestoßen. Sie durchtrennte die Wirbelsäule. Normalerweise werden Leute von vorne ermordet, wenn die wenigen Morde in Sookandil während der Zeit, in der ich hier Arzt war, einen Hinweis bieten. Meist sind Morde das Resultat eines außer Kontrolle geratenen Disputs, eines heftigen Streits. Jemanden von hinten zu erstechen deutet auf Berechnung hin, was eher ungewöhnlich ist. Selbst die Räuber, die über die Jahre hinweg die Wälder unsicher gemacht haben, haben ihre Opfer nur selten von hinten aus dem Verborgenen heraus ermordet. Ein ertappter Dieb flieht eher, als daß er sich jemandem stellt.
Ich glaube mich zu erinnern, daß wir nur zwei Fälle hatten... aber ich will nicht abschweifen, und letztlich ist auch jeder Mordfall anders. Jedenfalls scheint der Mörder ziemlich heimtückisch und kaltblütig gehandelt zu haben.
Andererseits wurde der Stoß mit großer Gewalt geführt, was wieder auf eine Affekthandlung schließen läßt, auf starken Haß oder durchgehendes Temperament." Der Arzt schüttelte den Kopf. "Man braucht wirklich Kraft, um eine Wirbelsäule zu zertrennen."
"Genügt ein heftiger Stoß dafür? Ich meine, könnte eine schwächere Person jemanden auf diese Weise ermorden?"
Der Doktor blinzelte. "Die Klinge würde am Knochen abgleiten. Dieses Material..."
Der Men'schin unterbrach ihn. "Also ein schwächerer Felliger könnte einen Mord wie diesen gar nicht begehen? Sagen wir, eine Ratte wie diese...?" Er wies auf Delley.
"Hey!" protestierte die Ratte. "Laß mich aus dem Spiel!"
"Unmöglich", beruhigte ihn Pargenn. "Nicht einmal ein anderer Fuchs könnte diese Gewalt aufbringen. Na ja, vielleicht ein Holzfäller, aber welcher Fuchs wird heute noch Holzfäller...? Ein Wolf, ein starker Wolf. Oder ein Bär, ganz sicher. Ein Hirsch, möglicherweise, aber Hirsche neigen selten zu Gewalt. Natürlich ein Leopard, aber ich habe hier oben erst einen oder zwei gesehen."
"Ein Fuchstaur?"
Pargenn hob die Schultern. "Ich habe gehört, daß sie recht stark sein sollen."
"Das sind sie." Alfon warf das Stuhlbein auf den Tisch, mit dem Dek Khiray in der Kneipe bedroht hatte.
Die Geste verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Menge atmete hörbar.
Der Doktor verließ das Podest leicht hinkend und setzte sich zwischen zwei Katzen in der ersten Stuhlreihe, die sich noch ein wenig mehr zusammendrängten. Alfon starrte mehrere Minuten lang nur über die anwesenden Felligen hinweg. Dann sagte er: "Ich denke, wir haben genug gehört."
"Das haben wir nicht", sagte Khiray entschlossen. "Wir haben nur gehört, was Dek belastet. Wir haben keine Zeugen gehört, die die Tat selbst beobachtet haben, und wir haben nichts von denen gehört, die Dek gut genug kennen, um ihn wirklich einschätzen zu können."
"Ich glaube kaum, daß wir das müssen", mischte sich Galbren ein. "Ich habe keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten."
"Fuchstauren sind nicht so!" beharrte Khiray. "Sie haben einen Ehrenkodex. Dek wollte sich einen Namen verdienen. Ein Mord hätte seinen Stamm für immer in Schande gebracht. Niemand vergißt die Grundregeln seiner Gesellschaft, nicht einmal betrunken."
"Interessant", warf Alfon ein. "Wie lange kennt Ihr die Fuchstauren schon?"
Khiray hob verzweifelt die Hände. "Ich kenne sie gut genug..."
"Wie lange?" donnerte der Men'schin.
"Ein paar Tage", flüsterte Khiray und wußte, daß er Deks Todesurteil unterschrieb.
Verblüfftes Schweigen war die Folge. Dann begann jemand zu lachen, und immer mehr Fellige stimmten ein. Das Gelächter erfüllte die Halle. Es war kein heiteres Lachen, sondern bitter und zynisch, höhnisch, abwertend. Ein paar Tage! Der Welpe glaubt, er könne ein ganzes Volk nach ein paar Tagen beurteilen!
Khiray wandte sich an Dek. "Warum sagst du nichts? Erkläre es ihnen! Du weißt es doch am besten! Sag irgend etwas! Sag, daß du es nicht getan hast!"
Der Fuchstaur hob den Kopf und starrte in das wiehernde Publikum. "Ich habe es nicht getan", sagte er fest.
Das Lachen wurde zum Orkan. Es übertönte Galbrens Bitte um Ruhe, Alfons Klopfen, vereinzelte Stimmen. Die versammelte Menge war zu einem tausendköpfigen, lachenden Ungeheuer geworden.
Khiray starrte auf Dek, dann auf Saljin, dann wieder auf Dek. Er merkte kaum, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. Er hatte verloren. Nichts, was er jetzt noch sagen konnte, würde Galbren oder Alfon oder irgend jemanden in der Stadt umstimmen.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis das Lachen verstummte und zu erwartungsvollem Schweigen wurde.
"Er hat recht", durchbrach eine Stimme die Stille. Pallys hatte sich erhoben. "Der Kodex der Fuchstauren ist streng. Dek hätte ihn nicht brechen können."
Alfon musterte das ältliche Kaninchen. "Und wie lange kennt Ihr die Fuchstauren? Zwei Wochen?"
"Viele Jahre", brummte Pallys, ehe die Menge wieder loslachen konnte. "Ich habe bei ihnen gelebt."
"Interessant", bemerkte Galbren. "Ich weiß, daß Ihr schon meinen Vater unterrichtet habt. Ihr habt die Stadt seit einer Generation nicht verlassen. Entweder seid Ihr älter, als es den Anschein hat, oder Ihr seid in Eurer Jugend ziemlich viel herumgekommen."
"Beides", stellte Pallys fest. "Galbren, du warst schon als Welpe ziemlich aufsässig und impertinent. Du willst doch nicht etwa andeuten, daß ich lüge?"
Ein Raunen lief durch den Saal. Pallys war ein bekannter und geachteter Bürger.
Alfon klatschte in die Hände. "Das will er keineswegs. Ich möchte jedoch einwenden, daß auch eine noch so gute Kenntnis eines Volkes nicht davor schützt, ein einzelnes Mitglied dieser Gemeinschaft, ein schwarzes Schaf, falsch einzuschätzen. Ich nehme an, daß die Fuchstauren als Volk durchaus ehrenwerte Leute sind. Aber es geht hier nicht um ein Urteil über das ganze Volk, sondern allein um diese Person, diesen Dek. Über ihn sprechen wir Recht, und ich habe bislang noch keine Stimme gehört, die ihn entlastet!"
"Augenblick!" rief Khiray. "Onkel Farlin, würdest du bitte herkommen?"
Farlin mühte sich auf das Podest. Die roten Roben schlotterten um seinen Körper; Farlin war für einen Fuchs groß, und die Kleidung war wohl für einen Wolf gemacht.
"Onkel Farlin, du warst in der Mordnacht in Saswins Nähe." Es bereitete ihm Übelkeit, so an seinen Vater zu denken. Aber es war das einzige, winzige Indiz, das er noch zu Deks Entlastung vorbringen konnte. "Hast du Dek gesehen?"
"Nein. Ich habe niemanden gesehen."
"Du wurdest niedergeschlagen, wahrscheinlich von dem Täter."
Farlin nickte. "Aber er kam von hinten."
"Er kam von hinten. Aber du hast ihn auch nicht gehört?"
"Nein."
"Die Planken auf unserem Schiff knarren leicht. Ein Fuchstaur ist nicht nur stark, er ist auch schwer. Um so leichter hättest du ihn hören müssen."
Alfon schüttelte den Kopf. "Nicht unbedingt."
Khiray wandte sich ihm zu. "Wieso nicht?"
"Fuchstauren sind Vierbeiner. Mit vier Beinen verteilt sich das Gewicht besser. Außerdem geht man als Vierbeiner anders. Man kann mit einer Pfote den Boden ertasten und trotzdem perfekt im Gleichgewicht bleiben, da man noch auf drei Beinen steht. Als Zweibeiner ist das nicht möglich. Der Fuchstaur kann viel besser auf knarrende Planken achten und sie umgehen als unsereins."
Entsetzt starrte Khiray auf Deks Pfoten. Alfon hatte recht. Vier Beine...
Sprach denn jedes Argument, das er hatte, gegen Dek?
Irrte er sich? War Dek doch schuldig? Der nagende Zweifel ließ sich nicht mehr aus seinen Gedanken vertreiben. Stand er hier und ruinierte seine Karriere als Händler, indem er den Mörder seines Vaters vor der gerechten Strafe zu bewahren suchte? Ließ er sich von seinen Gefühlen für Saljin blenden?
"Ich denke, alle Karten sind ausgespielt." Galbren verschränkte die Finger. "Jeder Anwesende kennt nun alle Fakten. Das einzige, wofür wir keine Zeugen haben, ist der Mord selbst. Wir haben hier keinen Magier, der uns Gewißheit darüber bringen könnte, aber brauchen wir einen solchen? Ich werde sagen, was sich in der betreffenden Nacht abgespielt hat.
Dek geriet mit Händler Khiray in Streit. Händler Khiray wollte den Fuchstauren einen Anteil am Profit einräumen, weil er das Gefühl hatte, die Fremden beim Kauf der Waffen übervorteilt zu haben. Dek fühlte sich beleidigt. Er hegte schon seit dem eigentlichen Handel einen tiefen Haß auf Khiray. Er versuchte, ihn zu töten, wurde aber daran gehindert. Während Händler Khiray abwesend war, betrank sich Dek.
Betrunken schlich er sich auf das Schiff des Opfers. Er ermordete es -- in seinem Zustand konnte er entweder nicht zwischen Khiray und Saswin unterscheiden, oder er beging den Mord an Saswin sozusagen stellvertretend --, nahm die Waffen an sich und versteckte diese und sich selbst im Wald. Erst am folgenden Tag kehrte Dek zurück und wurde festgenommen.
Das ist alles. Der Fall ist bei weitem nicht so kompliziert, wie Verteidiger Khiray zu denken scheint."
Galbren erhob sich. "Hat sonst irgend jemand Zweifel daran, wie die Gerechtigkeit aussehen muß?"
Schweigen war die Antwort. Dann rief jemand: "Schuldig!" Ein zweiter übernahm den Ruf, dann ein dritter, bis der ganze Saal immer wieder skandierte: "Schuldig! Schuldig!"
Alfon nickte beifällig. Khiray ließ den Kopf hängen. Nur Dek schien sich nicht um die Rufe zu kümmern. Er verschränkte die Arme, so gut die Ketten es ihm erlaubten, und blickte starr über die Menge.
Galbren klatschte in die Hände. "Die Verhandlung ist beendet. Das Urteil lautet auf Tod."
War Dek schuldig? Khiray konnte Saljin nicht in die Augen sehen, während sie den Garden ans Tageslicht folgten. Nicht nur, weil er sie enttäuscht hatte -- was hätte er tun sollen? -- vielmehr, weil er nicht mehr an Deks Unschuld glaubte. Alfon und Galbren hatten die meisten Puzzlestücke überzeugend genug zusammengesetzt. Was blieb noch?
Da war das Wurm-Wesen. Es paßte überhaupt nicht ins Bild, aber es schien auch nichts mit Saswins Tod zu tun zu haben. Es mochte gut und gern Zufall gewesen sein, daß es gerade in der Mordnacht erschienen war. Khiray hatte es in der Verhandlung nicht erwähnt, und auch seine Freunde wußten nichts davon -- andererseits, was hätte es gebracht, davon zu sprechen? Mittlerweile hatte Khiray den Eindruck, geträumt zu haben.
Und da war der Kodex der Fuchstauren. Deks Ehre. Verzweifelt schüttelte Khiray den Kopf. Das war nicht genug. Das konnte niemanden mehr überzeugen. Nicht einmal ihn selbst.
Natürlich, vielleicht hatte sich Dek betrunken und war in den Wald gegangen, um niemanden sehen zu lassen, wie er vor sich hin torkelte. Mikhoi hatte wenig Zweifel daran gelassen, daß er nichts vom Betrinken hielt. Dek wollte sich vor ihm nicht erniedrigen. Dann, als Dek vor Schnaps besinnungslos geworden war, hatte ihm jemand den Dolch gestohlen, war auf das Schiff geschlichen, hatte Saswin ermordet und die Waffen gestohlen und diese schließlich im Wald versteckt.
Aber wer hätte das tun sollen? Und warum? Saswin hatte keinen Todfeind, also schied Rache aus. Ein Streit? Nein, der Täter hatte Saswin heimtückisch von hinten erstochen. Gier nach den Waffen? Kaum, denn der Trollstahl war zu auffällig, um ihn in Sookandil benutzen oder weiterverkaufen zu können. Zudem waren die Waffen nachlässig versteckt worden, als hätte man sie finden sollen... oder als sei derjenige, der sie versteckt hatte, betrunken gewesen.
Wenn Dek nicht der Täter war, dann konnte es nur jemand gewesen sein, der dem Fuchstauren die Tat anhängen wollte.
Es war hoffnungslos. Er irrte sich. Dek war schuldig. Es gab keinen mysteriösen Unbekannten. Es gab...
...nur das Wurm-Wesen.
Die Menge drängte den Ausgängen entgegen. Niemand wollte sich die Vollstreckung des Urteils entgehen lassen. Überall murmelten Stimmen.
"Kleines Fellwesen..."
Khiray hörte die Stimme in seiner Erinnerung.
"Kleines Fellwesen..."
Es war keine Erinnerung. Khiray blickte auf und sah in das Gesicht des Beraters.
"Du hast gut gesprochen", sagte Alfon Sanass. "Nicht gut genug, fürchte ich, aber den Umständen entsprechend." Er lächelte. Langsam öffnete sich sein Mund.
Da war keine Zunge...
Für einen Augenblick erhaschte Khiray undeutlich die sich windende Form eines Egels, der sich hinter den Zähnen zusammenrollte. Aber ehe der Fuchs jemanden darauf aufmerksam machen konnte, hatte sich der Berater umgedreht und durch die Reihen der Garden gedrängt.
Er war tatsächlich das Wurm-Wesen. Wie auch immer er zu der neuen Hülle gelangt sein mochte, er war es. Und er war ein Teil des Puzzles, ein Teil, das nirgendwohin gehörte.
"Beruhige dich", sagte Saljin. Die nachdrängende Menge hielt von ihr immer noch einen respektvollen Abstand. "Was ist passiert?"
Khiray bemerkte, daß ihm das Entsetzen auf dem Gesicht geschrieben stehen mußte. "Ich habe etwas gesehen... es ist vielleicht wichtig, aber ich bin mir nicht sicher..."
"Erzähle es mir später." Beunruhigt sah die Fuchstaurin sich um.
Sie gelangten durch das Turm-Tor ins Freie. Die Menge nahm jedoch nicht ab. All die Hunderte, wenn nicht Tausende, die draußen warten mußten, strömten um die Garden herum, vereinigten sich mit der Masse, die von drinnen kam, zu einem mächtigen Zug, der immer wieder das Wort "Schuldig!" im Chor rief.
Khiray hatte Delley und Pallys aus den Augen verloren. Wahrscheinlich hatten sich beide aus dem Staub gemacht.
Vielleicht taten sie recht damit. Es gab nichts mehr zu tun. Dek war verloren -- Galbren würde keine Gnade gewähren. Saljin mußte das wissen, aber sie benahm sich nicht wie jemand, dessen Bruder in wenigen Minuten am Galgen baumeln würde.
Dann sah Khiray, weshalb.
Der Zug der Garden mit dem Gefangenen in ihrer Mitte war ins Stocken geraten, ohne daß sie den Versammlungsplatz und den Galgen erreicht hätten. Die Fuchstauren versperrten den Weg.
Mikhoi, Halann, Aryfaa, Dokmaris, alle in volle Rüstungen gekleidet und bewaffnet. Sie blockierten die Straße, zu allem entschlossen.
Khiray mogelte sich an den verunsicherten Garden vorbei. Saljin war dicht hinter ihm.
"Gebt Dek heraus", forderte Mikhoi. "Schuldig oder nicht, wir sind es, die über ihn urteilen werden."
"Ich fürchte, das ist unmöglich", erwiderte Galbren. "Die Tat wurde in unserer Stadt begangen und muß nach unseren Gesetzen bestraft werden."
"Das können wir nicht zulassen", stellte Dokmaris fest. Er schwang das Dekka'shin. "Vermeidet ein Blutvergießen. Ihr habt keine gut ausgebildeten Truppen und schlechte Waffen."
"Ich habe meine Garden. Mutige Männer. Elitetruppen." Galbren verbeugte sich halb. "Und viele davon. Ihr seid nur zu viert."
"Fünft", sagte Saljin und gesellte sich zu ihren Artgenossen. Aryfaa warf ihr ein Dekka'shin zu.
Nein!, wollte Khiray ausrufen, aber er konnte keinen Ton hervorbringen. Saljin war nicht gerüstet! Sie würde das erste Opfer in einem Kampf sein.
"Sechst", sagte Dek ruhig, als trüge er keine Ketten.
Aber es waren dreißig, vierzig Garden, dazu kamen jene, die weiter hinten in der Menge für Ordnung sorgten. Und weitere Trupps waren über die Stadt verteilt. Khiray hatte siebzig oder achtzig Mann gezählt, als die Garden in der Mordnacht nach Dek suchten. Sechs Fuchstauren zählten daneben nicht.
Galbren gab den Garden einen Wink. Schwerter wurden gezückt, hinderliche Umhänge fielen in den Staub.
"So sei es", seufzte Mikhoi und griff an.
Der erste Schwung des Angriffs trug die Fuchstauren mitten in die Reihen der Garden, ehe diese angemessen reagieren konnten. Erfahrene Soldaten hätten die Fuchstauren vielleicht aufgehalten, aber diese Männer waren verarmte Bauern, arbeitslose Handwerker, Landfahrer und Flußleute ohne Anstellung. Ein paar Wochen in einem Ausbildungslager ersetzten keine Erfahrung in echten Schlachten. Die Fuchstauren hingegen gingen methodisch und tödlich entschlossen vor.
Zum wiederholten Male kam Khiray zu Bewußtsein, daß er über die Fuchstauren so gut wie nichts wußte. Führten sie Kriege? Bekämpften sich ihre Stämme dauernd? Hatten sie mächtige Feinde unter anderen Völkern? Oder lebten sie in Frieden und bildeten nur einige wenige von ihnen für den Kampf aus?
Dokmaris und Halann griffen mit unverminderter Wut an, selbst als die erste Reihe der Garden unter weitausholenden Streichen der Dekka'shin gefallen waren. Khiray sah, daß Mikhoi Deks Ketten mit seiner Klinge durchtrennte. Die Hand- und Pfotenschellen konnte er nicht öffnen, aber er gab dem Gefangenen seine Bewegungsfreiheit wieder.
Die Garden reagierten, aber zu spät. Farlin brüllte ein paar Befehle, aber er verfügte über genausowenig Erfahrung und noch weniger Ausbildung als seine Männer. Wahrscheinlich richtete er mehr Schaden als Nutzen an. Khiray hatte auch nicht den Eindruck, als würde jemand auf ihn hören.
Die Fuchstauren bewegten sich mit der Sicherheit und Entschlossenheit geborener Krieger. Ihr Zusammenspiel war perfekt: Mikhoi hatte Dek erreicht, ehe die Angreifer auf Widerstand trafen. Die Garden behinderten sich gegenseitig und schienen überhaupt nicht zusammenzuarbeiten.
Weiter hinten in der Menge kam Panik auf. Die ersten Reihen der erwartungsvollen Felligen, die die Hinrichtung verfolgen wollten, blieben abrupt stehen, als die Gewalt direkt vor ihnen explodierte. Die Nachfolgenden drängten in fröhlicher Unwissenheit weiter nach vorne. Rufe wurden laut. "Sie kämpfen!" "Nichts wie weg!" "Macht doch Platz!"
Aber die große Menge in der engen Straße konnte sich nicht einfach auflösen. Das Geschrei wurde lauter. Die Garden, die weiter hinten den Zug ordnen sollten, kamen nicht vorwärts, während die kämpfenden Wachen sich den Fuchstauren allein stellen mußten.
Die Zeit schien unendlich langsam zu vergehen. Khiray sah, wie eine weitere Wache fiel. Die Fuchstauren nahmen keine Rücksicht; angesichts der Übermacht teilten sie tödliche Streiche aus, statt die Garden nur kampfunfähig zu machen. Der junge Fuchs drängte sich mit dem Rücken an eine Hauswand. Der Kampf spielte sich direkt unter seiner Nase ab, und die Wahrscheinlichkeit, von der Menge zwischen die Garden geschoben zu werden und Opfer eines zufälligen Hiebs zu werden, wurde immer größer.
Erstaunt stellte Khiray fest, daß Blut auf seiner Weste klebte. Er konnte sich nicht erinnern, wie es dorthin gelangt war. Aber zu seinen Füßen lag ein toter Gardist, den Arm halb abgetrennt, mit einem erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht, als wollte er sagen: "Das hatte ich mir so nicht vorgestellt..."
"Zurück!" brüllte Mikhoi, und die Fuchstauren formierten sich neu. Dek war frei, die Gardisten nicht fähig, sie aufzuhalten. Zum ersten Mal seit Beginn des Kampfes wurde Khiray klar, daß die Fuchstauren gewinnen würden, der Übermacht zum Trotz.
Aber dann erblickte der Fuchs weitere Gardisten, die aus der anderen Richtung kamen. Sie fielen den Fuchstauren in den Rücken -- und im Gegensatz zu den rotgekleideten Elitetruppen schienen diese Garden ihr Handwerk zu verstehen. Sie rückten im Gleichschritt vor, die Waffen gezückt, jede Reihe gegenüber der vorigen versetzt marschierend, eine Mauer aus scharfem Stahl.
Khirays Blick wanderte hinüber zu Galbren und Alfon, die im Schatten der jenseitigen Hauswand standen. Galbren lächelte.
Der Fuchs verstand. Die sogenannten Elitetruppen waren für Galbren nur ein Ablenkungsmanöver. Er hatte sie erbarmungslos geopfert, während die wahren Kämpfer die Fuchstauren einkesselten. Der Gouverneur benötigte die Elitetruppen gar nicht, denn die Tausenden von Felligen, die zur Hinrichtung gekommen waren, blockierten diese Richtung der Stadt viel wirkungsvoller. Selbst wenn die Fuchstauren die vielen Unschuldigen geopfert und Unbewaffnete massakriert hätten: die bloße Zahl der Neugierigen hätte sie aufgehalten.
Von den Rotgekleideten standen nur noch die, die sich im Kampf zurückgehalten hatten. Die Mutigen, die sich auf ein Duell mit einem Fuchstauren eingelassen hatten, lagen tot oder schwerverletzt am Boden. Überall war Blut -- in seinem ganzen Leben hatte Khiray noch nicht so viel Blut gesehen. Die Straße schien damit getränkt zu sein.
Die Fuchstauren schienen unverletzt, aber ihr wahrer Kampf begann erst. Khiray versuchte, seinen Blick von Saljin abzuwenden, und suchte unter den Gefallenen nach seinem Onkel Farlin.
Farlin stand in Galbrens Nähe, mit weit aufgerissenen Augen. Er blutete aus einer Wunde am Arm, schien aber ansonsten nicht verwundet zu sein.
"Farlin!" rief Khiray. "Onkel Farlin!" Aber der Lärm, der sich ringsum erhob, verschluckte seine Worte. Die panikerfüllte Menge versuchte immer noch zu fliehen und trampelte sich dabei gegenseitig nieder. Glas klirrte und Holz splitterte; anscheinend bemühten sich manche, dem Chaos zu entrinnen, indem sie in die angrenzenden Häuser eindrangen.
Alles in Khiray schrie nach Flucht, aber er wußte, daß es keinen Ausweg gab. Die Straße versank in einer Welle der Gewalt, und er konnte nichts tun außer zuzusehen.
Er wußte nicht einmal, wessen Sieg er erhoffen sollte. Wenn es überhaupt einen Sieger geben würde und nicht nur Tote.
Der aufbrandende Kampf zog seine Augen magisch an. Die Fuchstauren hatten sich daran gemacht, die Phalanx der Wachen zu durchbrechen. Ihre Waffen waren ungleich besser als die der Garden, aber das genügte nicht. Dreißig oder vierzig Garden standen gegen sechs Fuchstauren, von denen zwei ungerüstet waren.
Dek war bereits verletzt. Er stürzte sich verbissen in den Kampf, als müsse er allein die Garden niederringen. Einer der anderen Fuchstauren hatte ihm ein Schwert gegeben, aber dessen Reichweite war viel geringer als die eines Dekka'shin, und Dek kam den Waffen der Garden viel zu nahe.
Wenn er sich töten läßt, dachte Khiray, war die ganze Aktion umsonst.
Aber es war nicht Dek, der fiel, sondern seine Gegner. Selbst diese Garden konnten den Fuchstauren nicht standhalten. Schritt für Schritt mußten sie zurückweichen. Natürlich, sie kämpften nicht um ihr Leben -- Khiray ahnte, daß Galbren keinen der Fuchstauren entkommen lassen wollte.
Hatte er alles so geplant? Hatte er gewußt, daß die Fuchstauren Dek retten wollten, und ihnen diese Falle gestellt?
Aber warum? Nur, um das Geheimnis des Trollstahls für sich zu erlangen? Oder um seine Truppen in einer echten Schlacht zu erproben? Das klang widersinnig, aber Galbren war längst nicht mehr mit den Maßstäben der Felligen zu messen. Seine Tiraden gegen den Drunfürsten hatten gezeigt, welcher Art seine Pläne waren.
Khiray bemerkte überrascht, daß seine Pfoten ihn ohne sein Zutun der Schlacht immer näher trugen. Erschreckt hielt er inne. In diesen Kampf wollte er sich nicht verwickeln lassen -- er hatte keine Waffen, außer dem Dolch und dem Traummesser, wenn man das als Waffe bezeichnen wollte, und keinerlei Rüstung.
Und es war nicht sein Kampf...
...oder?
Aryfaa stieß ihr Dekka'shin in die Brust eines Gardisten. Ein Wolf führte einen mächtigen Hieb gegen Halann, doch dessen Rüstung ließ das Schwert des Wolfes abprallen. Saljin schien verletzt; sie war etwas zurückgefallen und schonte eine Vorderpfote. Ein Dachs stach immer wieder auf Mikhoi ein, der die Stöße mit einem Dolch aufzufangen suchte.
"Wir müssen hier verschwinden!" hörte Khiray. Er blickte sich suchend um. Es war Delley, der aus der Menge wieder aufgetaucht war, um den Fuchs zu suchen.
"Wir können nicht weg", erinnerte ihn Khiray. Ein Dolch wirbelte durch die Luft und prallte einige Meter von ihnen entfernt gegen die Wand.
Delley deutete nach oben. "Kannst du klettern?"
Khirays Blick wanderte erneut zu Galbren hinüber. Der Gouverneur starrte fasziniert auf die Schlacht. Nur Alfon...
Alfon sah Khiray an. Ihre Blicke trafen sich. Das Wurm-Wesen lächelte und schien etwas zu sagen.
Dann erscholl hinter der Menge, im Zentrum der Panik, ein Brüllen, das die Hauswände ringsum erbeben ließ. Zwei dunkle Schatten, die die Menge weit überragten, bahnten sich ihren Weg durch die drängenden Felligen.
Überdeutlich spürte Khiray die kalte Mauer in seinem Rücken.
Bären.
Sie durchwateten die Fliehenden, als stapften sie durch Wasser. Die Menge bremste ihren Schritt nur unwesentlich. Sie trugen rote Westen und Lendenschurze -- und ansonsten nur Gürtel mit Waffen, die um ihre Hüften und über ihre Schultern geschlungen waren. Garden? Bären als Gardisten? Khiray hatte noch nie etwas davon gehört, daß die einzelgängerischen und seltenen Bären sich für solche Beschäftigungen hergaben. So groß und kräftig sie waren, so harmlos gaben sie sich -- solange sie nicht gereizt wurden.
Die beiden Bären waren selbst für ihr Volk groß. Sie überragten die anwesenden Wölfe noch um eine Kaninchenlänge. Ihr Fell hing in schmutzigen Zotteln an ihnen herab, und ihre gebleckten Zähne waren gelb und fleckig. Ausgestoßene vielleicht, die ihrer eigenen Rasse nicht mehr willkommen waren. Sie glichen sich aufs Haar, vielleicht Brüder.
"Mach schon", drängte Delley und zerrte an Khirays Weste. "Das ist ein Massaker!"
Die Bären marschierten an Khiray, Delley, Galbren und Alfon vorbei, ließen sich auf alle viere hinab und begannen zu rennen. Selbst auf vier Pfoten überragten sie Khiray noch. Mit aufgerissenen Augen beobachtete der Fuchs den Angriff.
Jeder Bär wog sicherlich so viel wie drei Fuchstauren, wahrscheinlich mehr. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Waffen zu ziehen, sondern rannten ihre Gegner einfach um. Die Garden zogen sich zurück und überließen den Bären das Feld.
"Wir müssen etwas unternehmen!" rief Khiray.
"Wir müssen verschwinden, das ist das einzige, was wir müssen", protestierte Delley. "Und zwar jetzt!"
Khiray riß sich von der Ratte los und lief in Richtung der Bären. "Hört auf! Hört auf zu kämpfen!" Er wußte nicht, was in ihn gefahren war. Die Bären konnten ihn mit einem Hieb töten. Aber irgendwie kümmerte ihn diese Aussicht jetzt nicht.
Der erste Bär schlug Halann nieder. Gegen die Gewalt dieser Hiebe schützte auch die Trollstahl-Rüstung nicht. Der Fuchstaur sackte zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Der zweite Bär drehte sich zu Khiray um, zuckte die Achseln und packte Aryfaa. Er hob sie mühelos in die Luft, wirbelte sie einmal herum und warf sie dann in Khirays Richtung. Der Fuchs konnte dem lebenden Geschoß ausweichen, stolperte jedoch über einen stöhnenden Verwundeten und fiel in den Schmutz.
"Khiray!" Die Stimme gehörte Aryfaa, nicht Delley. "Du darfst dich nicht einmischen!" Mühsam kam die Fuchstaurin wieder auf die Pfoten. "Das ist nicht dein Kampf!"
Khiray setzte sich auf. Nein, nicht sein Kampf.
Einer der Bären schlug auf Saljin ein.
Andererseits... war er nicht oft genug davongelaufen?
Der andere Bär war verletzt. Mikhoi hatte ihm mit dem Dekka'shin eine tiefe Wunde an der Seite beigebracht. Die Bären waren nicht gerüstet und etwas schwerfällig.
Aber ihre Größe täuschte; ihre Bewegungen waren flinker, als Khiray angenommen hatte. Der Bär entriß Mikhoi die Waffe und zerbrach den Schaft wie einen dürren Zweig.
Der Fuchs rappelte sich auf. Saljin -- wo war Saljin? Die Fuchstaurin lag als niedergeschlagenes Bündel an einer Hauswand. Khiray eilte in ihre Richtung, ungeachtet der Bären und der anderen Garden.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Dek einem der Bären das Schwert in den Leib rammte. Vielleicht war der Kampf nicht ganz aussichtslos...
Aber der Bär weigerte sich zu sterben. Er riß das Schwert aus der Wunde und schleuderte es von sich.
"Saljin?" Die Fuchstaurin atmete noch. "Saljin!"
Sie öffnete die Augen. "Khiray? Du... du darfst nicht bleiben!"
"Verdammt!" fauchte der Fuchs. "Ich bin es leid, daß mir jeder vorschreiben will, was ich nicht machen darf!" Aber er wußte, daß es das Vernünftigste wäre, was er tun könnte. Verschwinden. Weit fortgehen. Er hatte keine Zukunft mehr in der Stadt, und wenn er sich nicht bald aus dem Staub machte, hatte er gar keine Zukunft mehr.
Aber er konnte nicht. Er konnte nicht gehen.
"Ich..." sagte er.
Dann traf etwas Hartes auf seinen Hinterkopf, und er sank in eine abgrundtiefe Schwärze.