Kapitel Acht


Khiray erwachte mit brummendem Schädel. Nur allmählich kehrte sein Bewußtsein zurück. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß etwas Wichtiges geschehen war, aber er konnte sich nicht erinnern...

...ein Kampf...

...mußte sich erinnern...

Saljin! Wie aus einem bösen Traum fuhr er hoch. Saljin war verletzt -- die Bären hatten die Fuchstauren angegriffen --

Er versuchte die Augen zu öffnen. Grelles Licht blendete ihn. Er lag auf etwas Weichem. Was war passiert? Wo war er? Etwas hatte seinen Kopf getroffen.

Das Licht dämpfte sich auf ein normales Maß. Es war nur eine Lampe, nichts weiter. Er befand sich auf der 'Silbernen Ansicc' in einer Kabine -- einer Passagierkabine, nicht seiner eigenen. Seine eigene Kajüte hätte den Felligen auch keinen Platz geboten, die ihn umstanden. Delley, Pallys, Doktor Pargenn, zwei Mitglieder der Crew.

"Er wacht auf", stellte der alte Dachs fest.

"Was...?" krächzte Khiray.

"Etwas hat dich getroffen", bemerkte Pallys und warf Delley einen verräterischen Seitenblick zu.

"Du!" ächzte der junge Fuchs. "Du hast mich niedergeschlagen!"

Delley wand sich. "Du wolltest nicht mitkommen. Ich konnte dich in so einer gefährlichen Situation unmöglich zurücklassen. Sie hätten dich womöglich umgebracht!"

"Du hast mich niedergeschlagen!" wiederholte Khiray ungläubig.

"Du hast mir keine andere Wahl gelassen! Die Bären wären sicher auf dich losgegangen. Sie haben..." Er brach ab.

"Was? Was haben sie?"

Pargenn schüttelte den Kopf. "Nichts, was dich interessieren sollte. Das war ein ziemlicher Hieb. Ich weiß noch nicht, ob du eine Gehirnerschütterung davongetragen hast. Wäre möglich. Bleib liegen und ruh' dich erst einmal aus."

Khiray hob die Hände. "Ich kann nicht... Ich muß zum Versammlungsplatz! Ich muß nach Saljin sehen!"

"Es ist zu spät!" entfuhr es Delley. "Du kannst nichts mehr tun..."

"Was soll das heißen?" Das Blut in seinen Adern wurde zu Eis. Zu spät?

Pargenn räusperte sich. "Du warst drei Tage lang bewußtlos. Manche Ratten können ihre eigene Kraft anscheinend nicht einschätzen." Er warf einen mißbilligenden Blick auf Delley.

Die Ratte schüttelte den Kopf. "Besser eine Beule als tot. Khirays Vater hat ihn mir anvertraut, gewissermaßen. Jetzt, wo Saswin tot ist, muß ich nach dem Kleinen sehen."

Khiray hörte ihm kaum zu. Drei Tage? Drei Tage waren vergangen? Dann war der Kampf längst vorüber. Hoffentlich... Er versuchte aufzustehen, aber Pargenn drückte ihn wieder zurück in die Kissen. "Nein, mein junger Freund, du bleibst hier... oder müssen wir dich ans Bett binden?"

"Was ist mit den Fuchstauren?" wollte Khiray wissen.

"Nun...", setzte Delley an, wurde aber durch einen strafenden Blick von Pargenn zum Schweigen gebracht. "Keine Aufregung für den Patienten."

Khiray schlug die Hand des alten Dachses beiseite. "Ich muß es wissen!" Er schwang die Beine über die Kante des Bettes. Eine kleine Beule würde ihn nicht aufhalten! Aber ihm war schwindelig, und seine Muskeln fühlten sich an wie Pudding.

Niemand versuchte ihn zu stoppen. Delley sah schuldbewußt drein. Pallys verschränkte die Arme. Pargenn runzelte die Schnauze. Die beiden Crewmitglieder zuckten die Achseln -- Khiray war der Kapitän!

Saljin...

Er durchquerte das Schiff fast ohne Probleme. Das Schwindelgefühl ließ ihn ein- oder zweimal gegen die Wände taumeln, doch nachdem er einen Holzknüppel aus dem Lager genommen hatte und als Stütze benutzte, konnte er sich recht schnell bewegen. Er hatte keine Kleidung an, nicht einmal den Lendenschurz, und war völlig unbewaffnet, aber in diesem Moment war es ihm herzlich egal, ob er wie ein mittelloser Wanderarbeiter wirkte.

Der Weg zum Versammlungsplatz hinauf war mühsam. Die Kräfte drohten ihn zu verlassen, ehe er die halbe Strecke hinter sich gebracht hatte. Er sah Fellige vorbeigehen, aber sie wichen ihm aus und weigerten sich, seinen Blick zu erwidern. Bunte Flammen tanzten vor seinen Augen.

Er wußte nicht, was er zu finden erhoffte. Wenn die Fuchstauren gesiegt hatten, wären sie längst verschwunden. Galbren würde die Leichen und die Verwundeten längst fortgeschafft haben. Wenn umgekehrt die Bären Sieger geblieben waren --

Er ahnte, was er sehen würde, ehe er den Versammlungsplatz erreicht hatte. Sein Verstand weigerte sich zu begreifen, aber sein Gefühl verriet alles.

Der aufgespießte Bär war nicht gestorben. Er hatte weitergekämpft. Khiray konnte sich nicht erinnern, ob die Wunde überhaupt geblutet hatte. Das waren keine normalen Bären gewesen, so wenig wie Galbrens Berater ein normaler Men'schin war. Söldner-Bären... wer hätte je davon gehört?

Keine Chance für die Fuchstauren. Vielleicht waren die Bären im Inneren auch eine sich windende Masse aus Würmern. Vielleicht hätte man die Maden unter dem Fell sehen können. Vielleicht waren sie auch etwas gänzlich anderes. Es spielte keine Rolle...

...nichts spielte mehr eine Rolle, außer Saljin.

Die Fuchstauren waren noch da, auf dem Versammlungsplatz. Die Bären waren Sieger geblieben. Die geschundenen, zerbrochenen Körper der Fuchstauren hingen vom Galgen, aber es war offensichtlich, daß sie tot gewesen waren, ehe man sie hängte. Galbren hatte offenbar ihre Rüstungen an sich genommen, jedenfalls trugen sie keine Kleidung mehr.

Fassungslos starrte Khiray auf die Toten. Die Bären hatten die Fuchstauren mit unvorstellbarer Gewalt getroffen. Ihre Arme und Beine schienen seltsam verdreht, ihr Rückgrat mehrfach gebrochen, und obgleich die Fuchstauren nur wenige äußerliche Wunden aufwiesen -- Schnitte und Kratzer aus dem Kampf gegen die Garden --, wurde offenbar, daß die Bären selbst ihre toten Widersacher noch mit mörderischen Pranken bearbeitet hatten.

Die Fuchstauren hatten einen Kampf geliefert, der ihrer würdig war. Aber die Bären hatten ihre Überlegenheit weidlich genutzt. Sie hatten es niemals nötig gehabt, zu den Waffen zu greifen.

Das Bild sank langsam in Khirays Bewußtsein und traf seinen Magen wie ein Keulenschlag. Er begann zu würgen. Alles war vorüber. Ihrer Würde beraubt, bewegten sich die Leichen der Fuchstauren langsam im Wind.

Tod, Tod, überall Tod. Wenn die Fuchstauren doch niemals in die Stadt gekommen wären... Tränen liefen über seine Wangen. Ein paar Passanten gingen kopfschüttelnd vorbei. Gerechtigkeit. Wo war die Gerechtigkeit jetzt? Hatte Pallys am Ende doch recht behalten?

Er konnte nicht mehr denken, kaum noch atmen. Sein Vater war tot. Die Fuchstauren waren tot. Was sollte er noch tun? Wohin sollte er gehen? Der Gedanke, sein Leben einfach weiterzuführen, kam ihm ungeheuerlich vor. Nach allem, was er gesehen hatte...

Aber er war kein Welpe mehr. Er faßte den Schmerz in seinem Inneren zusammen und wappnete sich dagegen. Er öffnete und schloß die Augen und blickte endlich wieder zu den Leichen der Fuchstauren auf. Dies würde ihn nicht umbringen. Er würde nicht aufgeben. Das Rätsel war noch nicht gelöst.

Nur langsam wurde Khiray klar, daß etwas nicht stimmte.

Er wischte sich die Augen und begann zu zählen. Vier. Es waren nur vier Fuchstauren.

Die Leichen schienen weit entfernt von den Persönlichkeiten, die sie einst beherbergt hatten, und waren kaum wiederzuerkennen. Mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung fing Khiray an, sie zu identifizieren.

Mikhoi. Aryfaa. Dokmaris. Halann.

Saljin und Dek fehlten.

Wilde, neu erwachte Freude erfaßte sein Herz. Sie lebten! Sie waren nicht hier am Galgen ausgestellt wie die anderen. Sie waren entkommen.

Nein. Vielleicht war dem nicht so... Vielleicht waren sie gefangen, saßen in den Kerkern Sookandils. Vielleicht waren sie tot, und Galbren hatte irgendeinen Grund, sie nicht öffentlich auszustellen. Es war zu früh, sich dieser Hoffnung hinzugeben. Und wenn sie als Gefangene lebten, wie sollte er sie retten? Er war nur ein einzelner Fuchs, ein Händler, weder Kämpfer noch Anführer. Er konnte sich nicht gegen Galbren und alle seine Garden stellen, gegen das Wurm-Wesen und die mysteriösen Bären.

Aber wenn... wenn Saljin Gefangene Galbrens war, mußte er es versuchen.

Schritte ließen ihn aufmerken. Er blickte sich um und sah in Farlins Gesicht. Sein Onkel hatte einen verbundenen Arm, trug aber noch immer die Uniform der Elitetruppen, Kleidung in Scharlachrot, und ein Schwert baumelte von seiner Hüfte.

"Es tut mir leid", sagte Farlin. "Du hättest dich niemals mit ihnen einlassen sollen. Galbren hatte recht, Fremde sind gefährlich. Aber ich hätte vorher nie gedacht, wie gefährlich."

"Er hat euch benutzt", stellte Khiray fest. "Ich habe es gesehen. Er hat diese Elitetruppen gegen die Fuchstauren geschickt, um sie aufzuhalten, während seine richtigen Soldaten sie umkreist und von hinten angegriffen haben. Er hat euch alle geopfert, all deine Leute."

Farlin schüttelte den Kopf. "Es steht mir nicht zu, seine Befehle zu hinterfragen. Das ist Taktik und Strategie, und ich verstehe noch nicht genug davon."

"Merkst du nicht, was hier vor sich geht?" Zornig wies Khiray auf die Fuchstauren. "Er spielt sein eigenes Spiel. Galbren will Macht, mehr Macht. Er will nicht nur diese Stadt. Er will den ganzen Armygan."

Den Verdacht auszusprechen klärte seine Gedanken. Ja, genau das war Galbrens Plan. Er hatte selbst gesagt, daß er den Drunfürsten für unfähig hielt. Jemand sollte ihn ersetzen, die Macht übernehmen. Galbren selbst, natürlich.

Der Armygan. Das ganze Land.

Man konnte Galbren nicht vorwerfen, sich mit Kleinigkeiten abzugeben.

Aber wie paßten die Fuchstauren in das Bild, das Wurm-Wesen, der Mord an Khirays Vater? Der Fuchs hatte das Gefühl, daß nur noch ein winziger Teil an dem Puzzle fehlte. Alles war verbunden. Galbren tat nichts ohne Sinn.

Aber wer sollte sich ihm in den Weg stellen? Khiray blinzelte. Es gab noch anderes zu tun...

"Onkel Farlin, was ist mit Saljin und Dek geschehen?"

Farlin blickte zum Galgen auf. "Der Angeklagte und die Fuchstaurin, mit der du gekommen bist?"

"Ja", grollte Khiray ungeduldig.

"Sie haben sie fortgeschafft."

"Wohin?"

"Ich weiß nicht. Hör zu, Khiray, du mußt hier verschwinden. Du bist in der Stadt nicht mehr besonders beliebt. Einige halten dich für einen Verräter."

"Gehörst du auch dazu?" murmelte Khiray bitter.

"Nein -- nein, natürlich nicht. Aber du hast falsch gehandelt, das mußt du einsehen. Dein Vater hätte das alles nicht gewollt. Du hättest dich nie mit diesen Fremden einlassen sollen. Aber es ist noch nicht zu spät. Geh fort. Nimm das Schiff und fang' unten in Drun'kaal noch einmal von vorne an. Das Gold sollte dir helfen, bis du ein gutgehendes Geschäft hast. Niemand kennt dich dort, niemand wird die Fuchstauren auch nur erwähnen. Du wolltest doch immer nach Drun'kaal zurückkehren, oder nicht?"

Der Gedanke wäre fast verlockend gewesen -- in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.

"Wo sind Dek und Saljin?" verlangte Khiray zu wissen.

Farlin seufzte. "Ich weiß es wirklich nicht. Sie sind nicht in den Kerkern, ich war gestern dort. Die anderen Wachen haben auch keine Ahnung. Glaube mir, ich habe mich das selbst schon gefragt."

"Was sagt Galbren?"

"Ich habe nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich werde übermorgen ins Trainingscamp aufbrechen. Bitte, nimm meinen Rat an! Wenn du so weitermachst, wirst du sterben, und deine Familienlinie mit dir."

Khiray zuckte die Achseln. Es war nicht mehr wichtig. Langsam verließ er den Versammlungsplatz und wankte die Straße zum Kai hinab. Farlin folgte ihm nicht.

* * *

"Ich weiß nicht, wo sie sein könnten", klagte Delley. "Glaubst du, ich habe die Nase aus dem Bullauge gestreckt? Ich habe die ganze Zeit an deinem Bett gesessen und über dich gewacht."

Khiray verschränkte die Arme. Er hatte die Kajüte des Kapitäns gewählt, um mit Delley und Pallys unter sechs Augen zu sprechen. Schließlich war er jetzt der Kapitän. "Kein Wunder, schließlich hast du mich niedergeschlagen. Du hattest ein schlechtes Gewissen."

"Fängst du schon wieder an?"

Khiray krauste die Schnauze. "Tu es jetzt. Geh zu den Wachen. Frage sie. Jemand muß sie gesehen haben. Tot oder lebendig, sie können nicht spurlos vom Erdboden verschwunden sein."

"Warum gehe ich nicht gleich zu Galbren?" murrte Delley. Die Ratte lümmelte sich tiefer in den Stuhl, als wollte er darin Schutz suchen.

"Ich habe es erwogen", erklärte Khiray, "aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß Galbren nicht geneigt sein wird, mir eine Auskunft zu geben."

"Du läßt nicht locker, oder?" fragte Pallys. Das Kaninchen war in sich zusammengesunken und sah nun fast so alt aus, wie es wahrscheinlich war. Khiray fragte sich für einen Moment, ob Pallys in der Tat mehr als siebzig Jahre alt war -- was er sein mußte, wenn er Galbrens Vater unterrichtet hatte. Der Lehrer sah nicht älter aus als fünfzig, normalerweise... doch gerade jetzt schienen ihn die Jahre und die Sorgen einzuholen.

"Nein", erklärte Khiray entschieden. "Ich werde nicht davonlaufen. Ich werde mich nicht abwenden, die Schultern zucken und gen Süden ziehen. Ich werde nicht die Augen schließen und Galbren tun lassen, was er will."

Pallys lachte heiser. "Das sind sehr mutige und heroische Worte. Gemessen daran, natürlich, daß der, der sie spricht, noch nie verblutend auf einer Straße gelegen hat, noch nie in den feuchten Kellern eines Kerkers auf die nächste schleimige Mahlzeit gewartet hat, noch nie vor dem Galgen stand und dem Henker in die Augen blickte. Einmal ist immer das erste Mal, junger Fuchs, und manchmal ist das erste Mal auch das letzte Mal."

"Ich gebe nicht auf", sagte Khiray ruhig. "Ich will Antworten."

"Du hast mir nicht zugehört", seufzte Pallys. Er nahm ein Fernglas in die Hand und drehte es nachdenklich. "Als ich noch jung war, nun ja, sozusagen -- da habe ich viele Länder bereist. Men'schin-Länder jenseits des Imperiums Dharwil, Reiche von Nicht-Men'schin jenseits von diesen. Ich habe die Welt gesehen, und die Welt ist groß."

"Du hast nie davon sprechen wollen", unterbrach Khiray ihn.

"Man darf wohl noch seine kleinen Geheimnisse haben, oder?" fragte Pallys ironisch. "Ich bin jahrelang gewandert. Manche Orte waren schlecht, voller Verderbnis, Angst und Gewalt. Manche Orte litten unter den Nachwehen ewiger Kriege. Manche duckten sich unter der Knute eines Tyrannen. Andere Orte waren wunderschön, reich und voller glücklicher Wesen, ob mit Fell oder ohne. Hier herrschte Toleranz und Freiheit, dort Unglück und Unterdrückung. Aber eines war allen diesen Orten gemeinsam. Sie waren nicht ewig. Tyrannei endet, wie auch Glück endet. Das ist der Lauf der Zeiten. Was heute für uns grausam und untragbar erscheint, ist eines Tages vorbei und nur noch eine Fußnote in Büchern. Wenn wir erhoffen, daß das Goldene Zeitalter ewig dauern möchte, geben wir uns einer Illusion hin, denn die Schönheit vergeht und stirbt ebenso wie das Häßliche. Ewig ist eine lange Zeit."

"Und deshalb sollen wir herumsitzen und nichts tun?" brauste Khiray auf. "Vielleicht können wir nichts tun. Vielleicht ist Galbren schon zu mächtig. Aber wir können es versuchen!"

Pallys stellte das Fernglas wieder hin. "Ich hatte nicht erwartet, daß du es verstehen würdest. Wenn man lange lebt, so wie ich, sieht man Städte fallen und Reiche vergehen. Alles verändert sich, alles ist im Fluß."

"Komm, gib nicht so an!" murmelte Delley. "Man könnte glauben, daß du unter den Gründervätern des Armygan selbst warst."

Pallys ließ sich nicht stören. "Man hat zwei Möglichkeiten: mit dem Fluß zu treiben und die Dinge geschehen zu lassen. Oder sich gegen die Flut zu stemmen und am Ende unterzugehen. Ich bin kein Held, der kämpfend sterben möchte. Ich bin nur ein Kaninchen, das ein friedliches Leben führen will."

"Geschichte geschieht nicht einfach", betonte Khiray. "Geschichte wird gemacht. Wir Felligen, Men'schin, Fuchstauren, Trolle oder was auch immer -- wir denkenden, fühlenden Wesen -- machen einen Unterschied. Wir bestimmen den Strom, von dem du sprichst. Wir formen und verändern ihn. Niemand treibt einfach so dahin. Und selbst wenn wir am Ende untergehen, wenn das, was wir bewirken, nur winzig klein und kaum sichtbar ist im Gefüge der Dinge, so haben wir doch nicht vergebens gelebt."

"Die Mächtigen machen die Geschichte. Die Kleinen passen sich an oder gehen unter. Khiray, du hast zu viele Heldensagen gelesen."

Der Fuchs funkelte das Kaninchen an. "Vielleicht. Aber ich weiß: wer niemals den Versuch macht, seine Träume und Vorstellungen zu verwirklichen, wird auch niemals in der Welt seiner Träume leben. Wer sich hingegen darum bemüht, kann vielleicht ein Stück seines Traums erringen."

"Hübsch gesagt", murmelte Delley.

Khirays Ohren erröteten. "Das stammt aus einem Buch, das ich mal gelesen habe."

Pallys lächelte. "Noch irgendwelche Bücherweisheiten?"

"Wie wäre es damit: 'Ist es besser, ewig zu leben um des Preises ewiger Bedeutungslosigkeit, ewig dahinzutreiben im Strome der Zeiten als graue Maus, ohne Hoffnung auf Glück? Oder sollte man den Preis des Todes zahlen und sein Leben in die Waagschale werfen, um zu erringen, an was man glaubt? Ist es besser, sich zu unterwerfen unter das Diktat der Geschichte und der Gewaltigen, um das grause Gesicht des Lebensnehmers nie zu sehen? Oder sollte man erstreben, selbst zum Titanen zu werden wider alle Hemmnis, trotz der Gefahr, am Ende zu scheitern?'"

"'Wir wägen den Wert unseres Lebens ab gegen die Ideale, die wir hegen'", ergänzte Pallys, "'gegen das Schicksal derer, denen unsere Liebe gilt, gegen den Zeitstrom selbst. Wir treffen eine Wahl, und wenn der Tod an uns vorübergeht, müssen wir damit leben. Wir können ein Staubkorn in der Ewigkeit sein oder eine glühende Flamme...' Ich habe dieses Buch auch gelesen."

"Es ist sehr alt", erklärte Khiray Delley, dem die unausgesprochene Frage ins Gesicht geschrieben stand. "Es handelt von einem Hort der Unsterblichen, der sich irgendwo auf der Welt befinden soll, und von zwei Brüdern, Leoparden aus einer adligen Familie. Der eine widmet sein Leben der Suche nach diesem Hort, um selbst unsterblich zu werden, der andere baut in der Zeit seines Lebens ein blühendes Reich auf. Nachdem der zweite Bruder gestorben ist, lebt der erste Hunderte von Jahren lang in einem Paradies und fragt sich, ob seine Unsterblichkeit den Preis wert war... doch am Ende zerfällt das Reich und wird zerstört..."

"Genug!" Pallys war aufgesprungen. Seine Ohren zitterten vor Erregung. Seine Nase zuckte, wie Khiray es nie vorher bei ihm gesehen hatte. "Diese alten Geschichten führen nirgendwohin!"

"Es ist eine sehr gute Geschichte", beharrte Khiray. "Sie handelt von Entscheidungen."

"Das weiß ich. Aber was weißt du? Du hast dem Tod nie ins Gesicht gesehen. Für dich ist er weit fort..."

Khiray starrte ihn nur an. Vergaß Pallys, daß er seine Familie verloren hatte? Seine Mutter, und nun auch seinen Vater? Daß die Fuchstauren eines schrecklichen Todes gestorben waren?

Schließlich senkte Pallys den Blick. "Entschuldige. Ich wollte nicht... Es ist sehr lange her, seit ich dieses Buch gelesen habe. Ich erinnere mich... erinnere mich in letzter Zeit an zu viele Dinge. Entscheidungen, ja. Vielleicht habe ich einmal eine falsche Entscheidung getroffen. Wie es so schön heißt, wir müssen damit leben."

"Schon gut", murmelte Khiray sanft. "Ich weiß gar nicht, ob ich es überhaupt wissen will. Wirst du uns helfen? Das ist die einzige Frage, die mich interessiert."

"Und mich gegen Galbren und seine Garden stellen?" Pallys schüttelte den Kopf. "Ich habe so lange mit meinen Überzeugungen gelebt. Soll ich sie nun einfach vergessen?"

Delley grunzte. "Verdammt, Kaninchen! Du sollst nicht an einer Revolution teilnehmen. Wir wollen bloß Saljin und Dek finden."

Khiray sah dankbar zu der Ratte hinüber. Delley hatte ein wagemutiges Grinsen aufgesetzt. "Und diese ganze seltsame Sache aufdecken", ergänzte er. "Immerhin, ich kann mir Galbrens Pläne schon vorstellen. Aber ich weiß noch nicht, wie Alfon Sanass da hineinpaßt..." Plötzlich wurde ihm klar, daß er seinen Freunden niemals von dem Wurm-Wesen erzählt hatte, das nun den Men'schin verkörperte. Er begann, die Geschichte der Mordnacht erneut aufzurollen, und vergaß auch nicht zu erwähnen, daß Alfon Sanass sich ihm nach der Verhandlung nochmals offenbart hatte.

Als er geendet hatte, zitterte Pallys am ganzen Körper. Seine Ohren waren flach angelegt, und seine Pfoten zuckten so nervös, als wolle er jeden Moment vor einer unsichtbaren Gefahr flüchten. Das Kaninchen schien unter dem Fell totenbleich geworden zu sein, und seine Schnauze hatte sich in einen verkniffenen Schlitz verwandelt. "Khiray, oh Khiray!"

"Was?" fragte der Fuchs beunruhigt.

"Du hast dir mächtige Feinde gemacht. Mächtiger, als du ahnen konntest. Der wahre Name des Wurm-Wesens, wie du es nennst, ist nicht Alfon Sanass, sondern Azzhuzzim Beladanar, Herr der Würmer. Er ist ein Ushink -- ein Dämon aus dem zweiten Kreis der Hölle."

* * *

Dämonen? Khiray hatte nie wirklich an solche Wesen geglaubt. Aber andererseits hatte er auch nie zuvor einen Men'schin getroffen, der aus Würmern zusammengesetzt war. Magie war am Werk, mächtigere Magie, als er je zuvor erlebt hatte. Und von einer gänzlich anderen Art.

Aber es erklärte vieles. Zum Beispiel, wie Galbren hoffen konnte, den Drunfürsten mit ein paar unerfahrenen Garden zu stürzen. Der Gouverneur brauchte seine Wachen nicht -- er war im Bunde mit magischen Mächten, die die Kraft der Magier von Drun'kaal weit überstiegen. Selbst wenn die Legenden von Dämonen, die Khiray kannte, deren Magie weit übertrieben, waren sie immer noch gefährlich genug. Das Puzzle... das Rätsel...

Und plötzlich fiel jedes Steinchen an seinen Platz.

Khiray ächzte. Galbrens Pläne waren viel weiter fortgeschritten, als er erwartet hatte. "Ich verstehe..."

"Ich nicht", brummte Delley. "Dämonen? Ist Galbren ein Magier, oder was?"

"Man braucht kein Magier zu sein, um in Kontakt mit Dämonen zu kommen", erklärte Pallys. "Dämonen suchen sich oft ihre Mittelsmänner selbst aus. Azzhuzzim Beladanar hat wahrscheinlich nur auf jemanden wie Galbren gewartet."

"Galbren wollte Macht... schon immer." Khiray nickte. "Wer weiß, wen er in seiner Zeit in Drun'kaal kennengelernt hat; vielleicht ist er in der Magie gar nicht so unbewandert. Als sein Vater starb, sah er die Gelegenheit, diese Macht tatsächlich zu bekommen. Aber er konnte sich nicht mit einer einzigen Stadt begnügen. Er will das ganze Land besitzen."

"Seinen Bruder hat er schon verschwinden lassen...", knurrte die Ratte.

"Mit den Truppen, die er ausheben konnte, war das nicht zu bewerkstelligen", fuhr Khiray fort. "Also nahm er Kontakt mit dem Dämon auf, oder der Dämon beobachtet ihn, sieht sein Dilemma und beschließt, sich mit ihm zu verbünden. Was der Dämon im Sinn hat, weiß ich nicht."

"Tod und Verderben", behauptete Pallys. "Die Ushinki sind dafür bekannt, daß sie sich an den negativen Gefühlen der Sterblichen weiden. Sie trinken Furcht und Haß, Panik und Verzweiflung, Todesangst und Verbitterung, wie wir Wein genießen würden. Aber Dämonen sind in der Welt der Sterblichen nicht willkommen. Sie brauchen ein Portal, einen Partner in der Ebene der Felligen. Und sie müssen sich verkleiden, damit ihre Gegner sie nicht zu Gesicht bekommen."

"Gegner?" Delley verschränkte die Arme. "Das wird mir langsam zu kompliziert. Welche Gegner? Zauberer?"

"Erzengel", erklärte das Kaninchen. "Die Diener der Götter. Sie wachen über die ganze Welt. Ein Dämon kann es sich nicht leisten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Azzhuzzim Beladanar spielt Galbrens Berater, um ihren Augen zu entgehen."

"Erzengel", wiederholte Khiray. "Füchschen mit Flügeln?"

"Unsinn", grollte Pallys. "Das sind Geschichten für Kinder. Die Erzengel sind mächtige Wesen, geboren aus den Feuern eines Uranfangs, dem auch die Götter entsprangen. Kein Sterblicher entsinnt sich dieser Zeiten. Erzengel sind keine Felligen -- ich glaube nicht, daß es auf dieser Welt Wesen mit ihrer Gestalt gibt."

"Wie sehen sie wirklich aus?"

"Ich habe noch keinen gesehen. Aber Erzengel wandeln oft unter den Sterblichen, und es gibt viele Berichte über sie. Sie sollen einen Körper haben, ähnlich den Men'schin, ohne Fell. Der Kopf eines großen Raubvogels sitzt auf ihren Schultern, und sie haben auch seine Flügel. Die Füße sind weder wie bei Men'schin noch wie bei Felligen, sondern Vogelkrallen, und der ganze Körper ist aus Gold gegossen. Ihre Form ist perfekt, und die Macht, die sie ausstrahlen, blendet selbst Zauberer. Sie sind groß wie Bären, aber ihre Körperkraft geht noch weit über deren hinaus, und durch ihre Magie sind sie unantastbar."

Unbehaglich versuchte sich Khiray vorzustellen, wie so ein Erzengel sein würde. Ein Vogelkopf? Er hatte noch nie ein Wesen mit Vogelkopf gesehen. Der Körper hatte kein Fell; hatte der Kopf Federn? Und warum erzählte man den Kindern von Füchschen mit Flügeln, wenn die Wahrheit doch allgemein bekannt war?

Um ihnen keine Angst zu machen? Ein Wesen in Magie gekleidet mußte schrecklich wirken. Vielleicht glorreich und gewaltig, aber auch entsetzlich und machtvoll.

"Also hofft der Dämon auf viele Tote", sinnierte Khiray. "Und die wird er bekommen... hat er schon bekommen..." Er legte die Ohren an. "Die Bären, die die Fuchstauren getötet haben, scheinen mir ebenfalls Dämonen zu sein. Also hat Galbren nicht nur ein Heer aus Felligen, sondern eine Armee der Dämonen. Damit könnte er sein Ziel erreichen und Drunfürst Kooradah stürzen."

"Wenn er Dämonen hat, braucht er wohl keine normalen Truppen mehr", warf Delley ein. "Wozu dann die Anwerbungen?"

Khiray lachte bitter. "Was würdest du denken, wenn Galbren mit einer aus dem Nichts geschaffenen Armee aus Dämonen Drun'kaal einnehmen würde? Wenn er sich selbst zu einem Tyrannen mit übernatürlichen Verbündeten erheben würde? Die Leute würden ihn hassen, verachten oder sogar bekämpfen. Du kannst gegen ein Heer kämpfen, aber nicht gegen all jene, die du beherrschen willst. Nein, Galbren braucht zwei Dinge, wenn er Kooradah entmachten will: einen guten Grund, den das Volk akzeptiert, und Fellige, die aus Überzeugung für ihn eintreten, ihr Leben geben oder nach der Schlacht davon erzählen. Letzteres hat er: seine Garden. Arme Leute, denen er eine Aufgabe und einen Lebensunterhalt gegeben hat. Leute, die ohne es zu wissen Seite an Seite mit verkleideten Dämonen kämpfen werden. Wenn Galbren Drunfürst ist, werden die Dämonen vielleicht verschwinden, aber es werden immer Veteranen bleiben, die vom Krieg erzählen. Die Felligen in seiner Armee sind die Tarnung für die Dämonen."

"Und es würde den Erzengeln auffallen, wenn Galbren plötzlich ein tausendköpfiges Heer hätte", ergänzte Pallys. "Sie können die Augen nicht überall haben, aber ein solches Ereignis wird ihnen nicht verborgen bleiben. Schon deshalb muß Galbren sich jedenfalls den Anschein geben, Truppen ausgehoben zu haben."

"Den Grund", fuhr Khiray fort, "baut Galbren schon die ganze Zeit über sehr sorgfältig auf. Furcht. Furcht vor Fremden, gegen die ein scheinbar untätiger Drunfürst nichts unternimmt. Der Dämon hat in der Verhandlung den Leuten eingeredet, die Men'schin seien ihnen feindselig gesonnen und gierten nach ihrem Land. Der Mord an meinem Vater hat den Zorn wachgerufen. Der Kampf gegen die Fuchstauren hat die Bürger mit Angst erfüllt."

Delley hieb mit der Hand auf die Stuhllehne. "Er hat die Fuchstauren in den Kampf getrieben."

Langsam nickte Khiray. "Es war Galbren. Galbren hat meinen Vater getötet, oder der Dämon in seinem Auftrag. Galbren und der Dämon haben alle Beweise so manipuliert, daß Dek als der Schuldige erscheinen mußte. Und er hat es ihnen mit seinem Verhalten leicht gemacht." Zorn pulste heiß durch seine Adern. Er spürte, wie seine Ohren glühten. "Es ging ihm nicht nur um das Geheimnis des Trollstahls, obwohl er auch das sicher besitzen wollte. Er hat eine öffentliche Schlacht provoziert, mit zahllosen Toten..."

"... acht Garden, sechs zu Tode getrampelte Fellige, an die fünfzig Verletzte...", zählte Pallys auf.

"...und vier Fuchstauren", grollte Khiray. "Alles, um Panik zu erzeugen, um seine Anschuldigungen und maßlosen Übertreibungen zu untermauern. Damit sich Gerüchte ausbreiten, damit alle Fremden als bösartige Wilde dastehen, als potentielle Eroberer... er schürt den Haß..."

Delley gab ein spuckendes Geräusch von sich. "Kleine Schiffe haben den Hafen noch am selben Tag verlassen. Die Gerüchte sind schon unterwegs."

"All das gibt ihm in den Augen des Volkes das Recht, von Drunfürst Kooradah Aktionen gegen die Fremden zu verlangen. Kooradah wird natürlich nichts unternehmen. Warum sollte er auch? Nach Drun'kaal bringen die Fremden ja nur Reichtum. Aber Galbren kann sein Spiel wiederholen, wo immer Fremde auftauchen, und seine Armee weiter ausbauen, bis der ganze Norden in seiner Hand ist. Und das Volk wird ihn als Beschützer feiern. Er weiß zu reden, er kann die Geschichte nach seinem Gutdünken auslegen. Irgendwann wird er einen Vorwand finden, sein Heer gegen Kooradah zu senden, und dank der Dämonen siegen. Dann gehört der Armygan ihm."

"Furcht in der einen Hand", murmelte das Kaninchen, "Hoffnung in der anderen."

"Das kann er nicht tun", platzte Delley heraus. "Die Leute können ihm doch nicht alles abnehmen! Jemand muß doch eine solche Täuschung durchschauen!"

"Täuschung?" ließ Pallys sich leise vernehmen. "Wahrheit liegt wie die Schönheit im Auge des Betrachters. Galbren tut mehr, als die Leute nur zu täuschen. Er errichtet eine ganz neue Wahrheit. Er formt die Welt nach seinem Bild."

"Das kann er nicht tun", wiederholte die Ratte ächzend.

"Er hat bereits begonnen." Das Kaninchen schüttelte den Kopf. "Er hat bereits begonnen."

* * *

Pallys' Wohnung schien kleiner zu sein als noch Tage zuvor, als Khiray seinen alten Lehrer besucht hatte. Die Bücher in den Regalen, die der junge Fuchs einmal als unermeßlichen Schatz betrachtet hatte, schienen im Licht von Galbrens Plänen bedeutungslos.

Pallys wühlte wortlos in einer alten, eichenen Truhe.

"Wir können nicht gegen Dämonen kämpfen", sagte Delley. "Wir müssen den Drunfürsten benachrichtigen. Er weiß sicher, was zu tun ist. Vielleicht ruft er so einen Erzengel, um die Dämonen zu vertreiben. Ohne die ist Galbrens Heer nicht mehr viel wert."

Khiray nickte. "Allein können wir nichts gegen Galbren ausrichten. Aber ich muß zuerst wissen, wo Saljin und Dek sind. Ich könnte sie niemals zurücklassen."

"Das ist gefährlich", sagte Pallys aus den Tiefen der Truhe.

"Wenn ich es nicht schaffe, müßt ihr allein nach Drun'kaal fahren", stellte Khiray klar. "Aber ich muß es jedenfalls versuchen. Was ist mit der Mannschaft?"

Delley hob die Hände. "Was noch davon übrig ist... na ja, einige haben gekündigt und das Schiff verlassen..." Die Ratte winkte ab. "Manche halten dich für einen Verräter. Tut mir leid. Andere glauben, daß du keine guten Geschäfte mehr machen wirst und ihren Lohn schuldig bleibst. Ich habe sie ausgezahlt."

Khiray nickte. "Der Rest?"

"Die, die noch da sind, stehen treu zu deiner Familie. Wir haben genug Leute, um die 'Silberne Ansicc' zu fahren."

Das war besser, als der junge Fuchs sich erhofft hatte. Offenbar hatten Galbrens versteckte und offene Anschuldigungen nicht bei jedermann den gewünschten Effekt. "Laß alle an Bord gehen. Falls ich Saljin und Dek finde, müssen wir Sookandil womöglich schnell verlassen." Er sprach nicht aus, daß er die Fuchstauren befreien wollte: das erschien ihm mittlerweile selbstverständlich. Er wußte nicht, wo sie waren, wie man sie bewachte, ob er es überhaupt bewerkstelligen konnte, in ihren geheimen Kerker einzudringen -- oder ob sie noch lebten. Aber er war entschlossen, sein Möglichstes zu tun.

Pallys warf einige Kästchen und Schachteln auf den Tisch. "Das wirst du brauchen."

"Wir haben noch nicht einmal einen Plan", gab Delley zu bedenken.

"Ich glaube, ich weiß, wo die Fuchstauren sind", sagte das Kaninchen. "Es gibt geheime Räume, seit langem vergessen, unterhalb der Stadt. Ich weiß nicht, wie Galbren davon erfahren haben könnte -- vielleicht sind diese Räume gar nicht so geheim, und das Wissen wird unter den Gouverneuren von Generation zu Generation weitergegeben. Vielleicht hat auch der Dämon ihm davon berichtet."

"Geheime Räume?" Delleys Schnurrhaare bebten.

"Vor etwas mehr als zweihundert Jahren erbaute einer von Galbrens Ahnen das große Mauerstück, das heute das Tagelöhnerviertel vom Zentrum trennt. Dabei ließ er auch unterhalb der Mauer, im Fundament der Türme, Räume einrichten. Ein Gang, der direkt unter der Mauer verläuft, verbindet diese Räume miteinander; ein weiterer Gang führt zum Gouverneurspalast. Wenn ich mich recht entsinne, endet dieser Gang in der Wachstube der Kerker. Es gibt aber auch geheime Eingänge von den Mauertürmen aus. Niemand weiß mehr davon; nachdem die Bauarbeiten eingestellt worden waren, hat man angeblich alles zugeschüttet und vermauert. Aber in Wahrheit existieren die Räume noch. Der Sohn des damaligen Gouverneurs hielt zwar gar nichts von den Bauplänen seines Vaters, aber eine geheime Zuflucht zu haben schien ihm nützlich. Die Kammern sind so tief gelegen, daß kein Laut aus ihnen dringen kann."

"Woher weißt du das alles?" wollte Delley wissen.

Pallys hob die Augenbrauen. "Ich habe meinen Anteil an den Geheimnissen dieser Stadt."

Khiray hatte den Eindruck, daß die Fragen um Galbren nicht die einzigen Rätsel in dieser Stadt waren. Aber er vertraute Pallys. Das Wissen des Lehrers war das einzige, was ihm im Moment zur Verfügung stand. "Bist du sicher, daß Saljin und Dek dort sind?"

"Sicher?" Das Kaninchen grunzte. "Nein. Es ist nur eine Möglichkeit. Ich habe nur daran gedacht, weil niemand zu wissen scheint, wo sie sind. Genausogut könnte Galbren sie aus der Stadt gebracht haben. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Nein, alle deine Fragen kann ich nicht beantworten. Ich weiß nicht einmal, welche Räume noch existieren, ob die geheimen Zugänge entdeckt oder vermauert worden sind, oder was dich dort erwartet. Ich bin kein Geist aus der Flasche, der mit allen Antworten aufwartet, wenn du den Stöpsel ziehst." Argwöhnisch musterte er Khiray. "Ich gehe doch recht in der Annahme, daß du selbst in diesen Räumen nach den Fuchstauren suchen willst?"

Khiray zuckte die Achseln. "Wollen ist das falsche Wort. Ich habe keine Wahl, oder? Es ist unser einziger Hinweis."

"Wir könnten sofort nach Drun'kaal aufbrechen." Pallys blickte wehmütig über die Reihen seiner Bücher.

"Nein", sagte der Fuchs fest. Das alles war in gewisser Weise ja seine Schuld. Hätte er nicht das Geschäft mit den Waffen getätigt, hätte Galbren niemals eine Möglichkeit gesehen, durch Saswins Ermordung den Haß auf die Fuchstauren zu schüren. Vielleicht hätte er den Fremden etwas anderes angehängt, aber sein Vater...

...sein Vater würde vielleicht noch leben.

Der Schmerz über seinen Verlust war noch zu frisch. Khiray weigerte sich daran zu denken. Die Dinge waren nun einmal passiert -- und wenn jemand schuld an Saswins Tod war, dann Galbren.

Aber er war den Fuchstauren verpflichtet. Sein Schicksal und ihres waren verknüpft.

Und Saljin...

"Liebst du sie?" wollte Pallys wissen, als hätte er seine Gedanken gelesen.

"Ich kenne sie kaum", erwiderte Khiray. "Ich weiß nicht... Es ist ein so komisches Gefühl."

Das Kaninchen nickte. "Das ist es immer. Aber laß dich nicht von deinen Gefühlen blenden." Der Lehrer öffnete eine der Schachteln und nahm zwei rötliche, flache Kristallscheiben heraus. "Hier, das ist ein magisches Werkzeug aus einem fernen Land. Man kann über diese Scheiben miteinander sprechen, egal wo man ist. Sobald der Zauber aktiviert ist, übertragen die Scheiben alle Geräusche." Er gab Delley eine der Scheiben, Khiray die andere. "Wenn irgend etwas passiert, gib Alarm. Und das hier ist Ruchkraut." Er klappte ein Kästchen auf. "Ich kann dich nicht unsichtbar machen, aber diese Salbe aus dem Kraut verschluckt deinen Geruch, wenn du sie ins Fell einreibst. Selbst Wolfsnasen können dich nicht mehr ausmachen."

Khiray starrte auf die schleimige Masse. "Igitt."

Delley grinste. "Das sieht aus wie damals, als wir durch die Kanäle..."

"Erinnere mich bloß nicht." Khiray seufzte. "Nun ja, vielen Dank."

"Ich verrate dir, wo die Eingänge in den Türmen sind und wie man sie öffnet", fuhr Pallys fort. "Du wirst bis zur Nacht warten müssen. Bist du sicher, daß du nicht noch ein paar Tage Ruhe brauchst?"

"Ganz sicher." Sie hatten nicht die Zeit dafür. Wer wußte denn, was Galbren den überlebenden Fuchstauren antat? Zwar fühlte sich Khiray noch immer etwas benommen, aber bis zum Einbruch der Nacht waren es noch einige Stunden. Er hatte noch Zeit, sich auszuruhen.

"Delley und ich werden die restliche Mannschaft zusammentrommeln und für den Fall eines Falles auf dem Schiff warten. Vielleicht kannst du die Fuchstauren befreien, vielleicht nicht. Wir werden sehen. Aber wenn du Erfolg hast, werden wir ablegen müssen, ehe die Dämonen dich verfolgen können."

Dämonen. Die Bären. Khiray schauderte. Von den riesigen Wesen ging eine sehr reale Bedrohung aus. Der Gedanke, sich heimlich aus Sookandil davonzustehlen, war attraktiv genug. Vielleicht würde Galbren annehmen, daß er die Stadt verlassen hatte, um sein Glück anderswo zu suchen. Wenn er aber zuerst die Fuchstauren befreite, würde der Gouverneur wissen, daß sein Plan durchschaut worden war, und sie sicherlich verfolgen lassen.

Nein. Er konnte sie nicht im Stich lassen. Wenn sie noch lebten, und wenn er die Chance bekam, sie aus Galbrens Klauen zu retten, mußte er es tun.

Konnten die Dämonen sich aus dem Nichts materialisieren? Konnten sie mit einem Gedanken große Entfernungen überbrücken? Waren sie zu gewaltiger Magie fähig? Khiray hoffte nicht. Aber er wußte nichts über seine Gegner. Was Pallys ihm erzählt hatte, war beunruhigend genug. Die Dämonen mußten die Grenzen ihrer sterblichen Körper beachten -- sie mußten einfach. Wenn sie neben ihrer gewaltigen Kraft und ihrer Widerstandsfähigkeit auch noch dämonische Magie wirken konnten, hatten er, Delley und Pallys gar keine Chance.

So oder so mochte er sie alle dem Tod ausliefern. Aber er hatte seine Entscheidung gefällt. Er würde damit leben -- oder sterben müssen.

* * *

Der Turm ragte vor ihm auf, düster und gedrungen. Er schien Teil einer Festung zu sein, nur daß sich die zugehörige Mauer nur auf einer Seite des Turmes erhob. Niemand war in der Nähe. Die Nacht hatte ihren schweigenden Mantel über Sookandil gezogen. Der Pulsschlag der Furcht und des Zorns war fast körperlich spürbar. Ein kühler Wind trieb aus dem Norden heran. Khiray fröstelte.

Mit Ausnahme eines Gürtels, in dem ein Meißel, zwei Messer und ein Dolch steckte, war er nackt. Sein ganzer Körper war mit glitschiger Salbe eingerieben, die sein Fell verklebte und es struppig machte. Er konnte sich selbst nicht mehr riechen, was ihm seltsam genug erschien; hoffentlich konnten die Dämonen ihn auch nicht wahrnehmen. Die Salbe hatte auch den Glanz aus seinem Fell genommen und es grau und braun verschmiert; vielleicht reichte das als optische Tarnung aus.

Er hielt sich nicht lange im Freien auf. Je länger er für jedermann sichtbar blieb, um so wahrscheinlicher wurde es, daß er tatsächlich gesehen -- und verraten wurde. Er betrat die kleine Wachstube im untersten Stock des Turms durch die schwere hölzerne Tür.

Natürlich hielt sich niemand darin auf. Wachen hatten diesen Raum nie benutzt; wozu auch? Die Mauer war ja nie fertiggestellt worden. Ab und zu verkrochen sich obdachlose Fellige im Winter hier, aber jetzt war es noch zu warm, um eine fensterlose, stickige Stube dem freien Wald und Feld vorzuziehen. Außerdem war ein Großteil der Armen in die Garden eingetreten und hatte es nicht mehr nötig, heimlich Unterschlupf zu suchen.

Es befanden sich keine Möbel in der Wachstube. Eine steinerne Treppe führte in die zweite Etage. Der einfache Kamin, mit dem man die Stube heizen konnte, war seit Jahren unbenutzt. Khiray ging in die Ecke, die von Wand und Kamin gebildet wurde, und begann gemäß Pallys' Beschreibungen nach dem Mechanismus zu suchen.

Pallys. Das Kaninchen war ein weiteres Rätsel. Der alte Lehrer schien die richtigen Antworten und Lösungen auf alle Fragen, die Khiray bedrückten, parat zu haben. Ohne ihn hätte er nicht einmal vermutet, daß es hier tief in der Erde verborgen geheime Räume gab, geschweige denn den Zugang gefunden. Auch daß Alfon Sanass ein Dämon war, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Pallys besaß magische Hilfsmittel wie die Sprechscheiben und so nützliche (wenngleich eklige) Dinge wie das Ruchkraut. Woher hatte er sein Wissen, woher all diese Dinge? Gesammelt in einem langen Leben, würde das Kaninchen gesagt haben.

Aber war Pallys wirklich, was er zu sein vorgab? Die Angelegenheit mit dem Dämon Azzhuzzim Beladanar hatte Khiray mißtrauisch werden lassen. Manche Erscheinung war nur eine Maske. Was, wenn auch das Kaninchen ein magisches Wesen war? Er konnte nur hoffen, daß Pallys wirklich auf ihrer Seite stand.

Daß dieser geheime Eingang nicht direkt in eine Falle führte.

Hatte er das Spiel jetzt verstanden? Azzhuzzim konnte er schlecht fragen. Letztlich gab es keine Gewißheit -- vielleicht war alles, was er, Delley und Pallys über Galbrens Pläne vermutet hatten, falsch. Er setzte sein Leben auf eine Vermutung...

Nein. Dies war nicht der Zeitpunkt für Zweifel. Er mußte seinem Gefühl vertrauen.

Der Deckel ließ sich erst knirschend und scharrend anheben, nachdem Khiray mit dem Meißel alten Mörtel von den Fliesen geschlagen hatte. Kein Wunder, daß niemand je den Zugang gefunden hatte!

Abgestandene, faulige Luft schlug Khiray entgegen. Ein schmaler Schacht führte senkrecht in die Tiefe. Rostige Eisengriffe boten einen unsicheren Halt. Nach wenigen Metern versank das Loch in völliger Finsternis.

Widerwillig vertraute sich Khiray der behelfsmäßigen Leiter an. Schleimige Flechten kümmerten in der Dunkelheit. Rost rieselte unter seinen Pfoten hervor. Er begann mit dem Abstieg.

Über ihm schloß sich der Mechanismus des geheimen Ganges wie der Deckel eines Men'schin-Sarges.


Ende von Kapitel Acht