Kapitel Dreizehn


Khiray überließ Kinnih das Ruder. Hier in der Nähe des Otterdorfes gab es keine gefährlichen Stellen; der junge Dachs konnte das Schiff ohne weitere Aufsicht lenken. Er selbst begab sich unter Deck, um nach Kaslin-Ray zu sehen.

Pallys behandelte die Ratte. Das alte Kaninchen verstand sich natürlich auch auf Medizin, und die Arzneivorräte und das Verbandszeug waren an Bord reichlich vorhanden - immerhin war die 'Silberne Ansicc' für Fahrten ausgerüstet, auf denen die Besatzung für Wochen keinen Arzt sah.

Khiray verstand ein wenig von Medizin, aber längst nicht genug; er konnte eine Blutung stillen oder einen gebrochenen Knochen schienen, kurz, er konnte bei den Verletzungen aushelfen, die häufig auf dem Fluß auftraten. Aber eine verätzte Hand wie Kaslin-Rays lag außerhalb seines Wissens.

Er konnte nicht einmal sagen, ob die Ratte ihre rechte Hand jemals wieder gebrauchen können würde: das Fell war völlig weggeätzt, Haut und Fleisch angegriffen und braunschwarz versengt wie von großer Hitze. Die Finger hatten sich zu Klauen verkrümmt, und von den letzten beiden Fingern schienen die letzten Glieder zu fehlen.

Glücklicherweise war Kaslin-Ray noch immer bewußtlos. Pallys schmierte übelriechende Salbe auf die Ätzwunde und beäugte sorgenvoll die Verletzung. "Wir werden die beiden Finger hier amputieren müssen", erklärte er Saljin, die ihm assistierte.

Khiray räusperte sich. "Kann ich etwas tun?"

Pallys schüttelte den Kopf. "Du führst das Schiff, ich sorge für den Patienten. Es sei denn, du kannst Wunder wirken."

"In letzter Zeit wirke ich nur Katastrophen", stellte der Fuchs nüchtern fest.

"Unsinn!" sagte das Kaninchen scharf. "Du tust dein Bestes. Wir alle tun unser Bestes. Kaslin-Ray ist zäh; er stirbt nicht so leicht. Wenn wir vor den Dämonen in Drun'kaal sind, enden all diese Probleme. Dann können wir uns noch reichlich bemitleiden, beweihräuchern, beschimpfen oder in Grund und Boden verdammen. Heiz' die Kessel!"

Khiray verließ den Raum und sah sich nach den Ottern um. Die meisten von ihnen saßen auf dem Achterdeck herum. Einige hatten sich bereits von dem Schrecken erholt und tollten herum oder erkundeten das Schiff, aber den meisten stand der Schock noch immer ins Gesicht geschrieben. Selbst die leichtlebigen, fröhlichen Otter nahmen den Verlust ihrer Heimat nicht leicht.

Shooshun und Pakkaht betreuten sie. Sarmeen unterhielt sich in einem Gemisch aus Zeichensprache und mühsam hervorgebrachten Lauten mit Fryyk - beide wirkten alles andere als glücklich.

"Zehn von ihnen sind schon über Bord gegangen", stellte der Hirsch fest. "Sie hatten keine Lust mehr, hier eingepfercht zu sein." Eingepfercht? Das war eine ottertypische übertreibung. Niemand hielt sie fest, sie konnten sich auf dem Schiff frei bewegen. Obgleich die 'Silberne Ansicc' nicht für so viele Passagiere ausgelegt war, war doch Platz genug vorhanden, schließlich hatten sie nicht einmal Fracht an Bord.

Khiray runzelte die Stirn. Das über-Bord-Gehen machte ihm keine Sorgen; es waren immerhin Otter. Aber die Dämonen lauerten noch irgendwo. "Wir sind noch viel zu nahe am Dorf!"

"Glaubst du, daß die Dämonen dort auf sie warten werden?"

Der Fuchs dachte kurz nach. "Nein, wahrscheinlich nicht. Sie haben kein Interesse an den Ottern und keine Zeit, sie zu jagen. Sie kennen zwar Galbrens Pläne, aber selbst wenn der Gouverneur sie deswegen auslöschen will, kann er sich nie völlig sicher sein, alle erwischt zu haben. Er weiß nicht, wie viele es sind oder an wen sie die Geschichte schon weitererzählt haben. Das einzige, was er tun kann, ist alles abzustreiten und darauf zu hoffen, daß sich die Gerüchte totlaufen. Dämonen gehören schließlich ins Reich der Sage."

"Richtig", sagte Fryyk hinter ihm. "Aber vielleicht hetzt er seine Dämonen auch auf jeden Otter am Fluß."

Khiray drehte sich um und schüttelte den Kopf. "Das kann er nicht. Je öfter er seine Dämonen einsetzt, um so mehr Zeugen gibt es, um so mehr Spuren, denen ein Erzengel vielleicht folgen kann." Er mußte dringend Pallys fragen, was ein Erzengel wirklich vermochte. "Wenn er mit einem Schlag den Otterpfad entvölkern könnte, würde er es vielleicht tun - aber so kann er nur darauf bauen, daß die ganze Geschichte als Märchen einiger hysterischer Otter abgetan wird, deren Dorf während eines Banditenüberfalls abgebrannt ist."

"Wir werden die Wahrheit verbreiten", erklärte Fryyk entschlossen. "überall. Galbren wird keine ruhige Minute mehr haben. Jeder am Otterpfad wird es wissen. Und unsere Schiffe werden dieses 'Märchen' im ganzen Armygan verbreiten."

"Ist das klug?" fragte der hochgewachsene Hirsch. "Das würde Galbren erst recht aufmerksam machen. Und zornig. Man sollte nie den Blick der Obrigkeit auf sich ziehen."

Fryyk blickte finster drein. "Wir sind Otter! Wir geben einen Scheiß auf eure Obrigkeit! Wir tun, was wir wollen. Und wir werden Galbren nicht damit durchkommen lassen."

Khiray fragte sich, ob die Unterstützung durch die Otter einen Unterschied machen würde. Sie waren nicht von Anfang an dabeigewesen. Wahrscheinlich waren sie sich nicht einmal über die Ereignisse in ihrem eigenen Dorf einig. Ihre Geschichten würden sich widersprechen. Und selbst wenn nicht, wie glaubwürdig wären sie?

Hätte er selbst eine solche Geschichte geglaubt?

Wahrscheinlich nicht.

Die Erzählungen der Otter würden sich totlaufen. Vielleicht verbreiteten sie sich wirklich im ganzen Armygan, aber als eine Art Legende, aufgebauscht und interessanter gestaltet - aber leider immer mehr von der Wahrheit entfernt - durch häufiges Weitererzählen. Eine Geschichte unter vielen, wie sie dem Drunfürsten Tag für Tag zugetragen wurden. Ohne Sarmeen als Beweis, ohne ihn und Pallys und Saljin als Zeugen würde Kooradah nichts unternehmen.

"Die Fahrt geht weiter", erklärte Khiray entschlossen. "Fryyk, kannst du ein paar Otter überreden, uns zu helfen?"

"Wobei?" wollte der Otter wissen.

"Im vorderen Aufbau sind Strohballen. Wir müssen sie an bestimmten Stellen außenbords befestigen, damit sie Stöße gegen Felsen abfangen. Normalerweise hängen wir sie nur im Hafen an die Molenseite... ich fürchte, wir haben nicht genug davon, um alle gefährdeten Punkte am Schiff zu sichern, und ich weiß auch nicht, ob es viel nützt, wenn die 'Ansicc' mit Höchstgeschwindigkeit auf einen Felsen rauscht. Aber wir müssen es versuchen."

Fryyk nickte und bellte den Ottern ein paar Worte zu. Die Herumsitzenden warfen sich gegenseitig Blicke zu, dann entschieden einige, daß das Warten ohnehin langweilig war und daß man sich auch nützlich machen konnte. Geleitet von Khiray machten sie sich an die Arbeit.

Die 'Silberne Ansicc' bewegte sich jetzt mit Höchstgeschwindigkeit, unterstützt durch den raschen Lauf des Flusses. Vom Schiff aus wirkte das Tempo nicht so beeindruckend, außer man war ein erfahrener Flußmann und spürte den Druck des Wassers gegen den Rumpf, wenn das Fahrzeug sich in einer Enge hob und senkte oder sich in einer Strömung gegen das Ruder stemmte. Aber Khiray wußte, daß ein guter Läufer kaum mehr als zwölf Kilometer in der Stunde schaffte - ein Hirsch jedenfalls - und dieses Tempo allenfalls eine Stunde durchhielt. Die langsameren Läufer - Füchse oder Wölfe etwa - waren ausdauernder, doch ihre schnellen Sprints kosteten sie noch mehr Kraft. Ein Reiter zu Pferd kam etwas schneller voran, aber selbst Pferde ermüdeten. Sie mochten auf kürzere Strecken dreimal schneller sein als das Schiff jetzt, doch nur in Abenteuergeschichten konnten die Helden in dieser Geschwindigkeit von Stadt zu Stadt galoppieren.

Maschinen ermüdeten nicht. Die 'Ansicc' konnte den ganzen Tag so weiterfahren, und wenn Delley die Kessel gut wartete, mochten sie bis Drun'kaal kommen. Abgesehen natürlich von den Stromschnellen und der Notwendigkeit, etwas Proviant nachzufüllen. Die Otter mußten versorgt werden; sie konnten keinen Fisch fangen, da das lärmende Schiff alle Fische in Ufernähe trieb, und hundert hungrige Mäuler ließen die kargen Vorräte, die neun Felligen noch bis Drun'kaal gereicht hätten, binnen eines Tages verschwinden.

Aber die Dämonen reisten noch schneller...

Die körperliche Arbeit vertrieb die trüben Gedanken eine Weile aus Khirays Kopf, aber als das Schiff mit Strohballen so gut es ging gerüstet war, kehrten sie zurück. Er stand am Bug und ließ den Kopf hängen. Nichts tun zu können war das Schlimmste auf der Fahrt.

Saljin gesellte sich nach einer Weile zu ihm. "Solltest du nicht das Steuer übernehmen? Der Fluß sieht ziemlich schnell aus."

Khiray schüttelte den Kopf. "Kinnih macht das schon. Pakkaht hält Ausschau nach Problemen. Delley versucht die Maschinen in Gang zu halten. Shooshun beschäftigt die Otter. Wie geht es Kaslin-Ray?"

"Nicht besonders, aber er lebt. Pallys bereitet ihm noch mehr von seinen Kräutern zu. Wahrscheinlich wird er Fieber bekommen. - Du solltest eine Weile schlafen."

"Ich kann kein Auge zutun."

Schweigend starrten sie über den Fluß. Der Wald stieg inzwischen zur Rechten steil an, und erste Berge waren in der Ferne sichtbar. Natürlich würden die Berge fern bleiben - der Fluß floß schließlich nicht bergauf. Aber bis zu Dorns Schnellen würde das ungebende Gelände immer felsiger werden, schließlich in Schluchten und Engpässe münden, und der rasende Lauf des Flusses würde erst weit hinter Bärenberg enden.

Hartnäckige Büsche klammerten sich an den Fels. Die Hänge waren von Fichten und Tannen bewachsen. Tiere waren nicht zu sehen oder zu hören - sofern sie nicht von den stampfenden Maschinen des Schiffs oder vom Anblick der rotierenden Schaufelräder vertrieben worden waren, wurden sie auf jeden Fall übertönt. Der Fluß rauschte, grollte, zischte.

Eine über den Fluß ragende Felszinne - ein beliebter Orientierungspunkt für die Otter - rief unter den unfreiwilligen Passagieren Staunen hervor. Fryyk zollte Khiray im Vorbeigehen Anerkennung. "Ich wußte nicht, daß bloße Dampfer so schnell sein können."

Der Fuchs nickte nur. Sie mochten so schnell sein, wie sie wollten - Tor hatten sie nichts entgegenzusetzen. Der Dämon mochte überall einen Hinterhalt für sie aufbauen, überall.

"Ich frage mich, ob es hier viele Trolle gibt", sinnierte Saljin.

Khiray zuckte die Achseln. "Ich habe noch nie einen Troll gesehen. Gibt es sie überhaupt bei uns?"

"Sie geben sich nicht gern zu erkennen." Saljin spähte über die Landschaft. "Sie bleiben lieber unter sich. Ich weiß nicht, ob sie wirklich Einzelgänger sind oder ob es irgendwo geheime Trollstädte unter der Erde gibt, jedenfalls leben sie meist in Grüppchen zu dritt oder viert. Nachdem ich ihre Sprache gelernt hatte, wurden sie etwas zugänglicher. Wir waren überrascht, wo in unserem Land überall Trolle leben. Wahrscheinlich gibt es hier auch viele von ihnen; sie geben sich nur nicht zu erkennen."

Der Gedanke war Khiray irgendwie unheimlich. Aber glücklicherweise kamen Trolle - laut Saljin - nur in felsigen Gebieten vor, und der Armygan bestand zum größten Teil aus Sumpf und Wäldern.

Ob die Bären von Bärenberg etwas über Trolle wußten? Unmöglich war das nicht. Er hatte ja am eigenen Leib erfahren, daß Fuchstauren in Drun'kaal durchaus nichts Ungewöhnliches waren, obgleich er selbst sie noch nie gesehen hatte. Warum sollten die verschlossenen Bären nicht ähnliches Wissen über die Trolle haben, das gar nicht oder nur in Form von Geschichten seinen Weg in den Armygan fand?

Vielleicht gab es einen mächtigen Zauberer unter den Trollen, der die Dämonen vernichtend schlagen konnte. Oder wenigstens einen Erzengel herbeirief, der mit der Plage aufräumte. Khiray war kein gewalttätiger Fuchs, aber er hatte im Moment keinen größeren Wunsch als einen großen, magischen Hammer, mit dem er die Dämonen einen nach dem anderen zermalmen konnte.

Aber er ahnte, daß es eine so einfache Lösung nicht geben würde. Sie würden weiter um ihr Leben kämpfen müssen, noch viele Tage lang, und wer vermochte zu sagen, was in dieser Zeit geschehen konnte?

Pallys tippte ihm auf die Schulter. "Kaslin-Ray schläft. Ich habe den Ottern gesagt, daß sie ein wenig auf ihn achtgeben sollen, und Delley unterrichtet."

Khiray nickte. Er fühlte sich erschöpft und müde, als hätte er selbst die Ratte behandeln müssen. "Du kannst dich ein wenig aufs Ohr legen. Die Fahrt wird in ein paar Stunden ziemlich holprig werden."

Das Kaninchen nickte, machte aber keine Anstalten zu gehen.

"Khiray?" sagte es schließlich.

"Hm?"

"Der Stab. Er besitzt so gut wie keine Energie mehr. Ich habe alles verbraucht, um den Dämon zu töten."

Stab? Khiray blinzelte. Der magische Stab? Ihre einzige Waffe, die sich gegen die Dämonen als wirksam erwiesen hatte! "Dann können wir uns keine weitere Begegnung mit irgendeinem Dämon leisten."

"Vielleicht schreckt auch der leere Stab sie ab", riet Saljin. "Man könnte sie bluffen."

Pallys zog den Stab hervor und wog ihn in der Hand. "Dämonen sind nicht so leicht zu bluffen. Sie spüren Magie. Ich habe doch gesagt, daß sie ein besonderes Verhältnis dazu haben. Und sie fürchten den Tod nicht wirklich; täten sie das, wären sie niemals in diese Sphäre vorgedrungen."

"Sie können überall lauern", erinnerte Khiray ihn. "Wir können ihnen vielleicht nicht mehr aus dem Weg gehen."

"Ein oder zwei Barrieren lassen sich mit dem Stab noch bauen." Pallys begann weitschweifig zu erklären, wie man diese Funktion aktivierte. Es lief darauf hinaus, daß man dem Stab über seine Gedanken Befehle erteilte. Das Kaninchen gab den Stab an Khiray weiter.

"Was soll ich damit?" Der Fuchs wedelte mit dem magischen Ding herum. "Du weißt besser damit umzugehen."

"Mag sein. Aber du mußt ihn bei dir haben, wenn du von Bärenberg aufbrichst."

Khiray seufzte. Er war diese Geheimniskrämerei leid. "Wohin breche ich auf? Warum kommst du nicht mit? Willst du das Schiff verlassen?"

"Im Gegenteil. Du wirst das Schiff verlassen." Pallys runzelte die Stirn, und plötzlich wirkte er wieder so energisch wie vor Jahren, als Khiray ihn kennengelernt hatte. "Wir brauchen eine Waffe, die zuverlässig gegen die Dämonen wirkt. Ohne ein solches Werkzeug sind wir verloren. Ich bin kein Magier, ich kann die Energie des Stabes nicht wieder auffüllen. Aber es gibt einen Magier in Bärenberg, oder besser, einige Kilometer landeinwärts. Sein Name ist Ghanzekk; er ist ein Leopard. Von ihm habe ich diesen Stab erhalten. Er weiß, wie man ihn wieder auflädt, vielleicht hat er sogar noch mehr davon."

Der Fuchs ballte die Fäuste. "Und davon erfahre ich erst jetzt?" So sehr er sich auch Mühe gab, das Kaninchen zu verstehen... es gelang ihm nicht. "Unser Leben hängt von solchen Informationen ab! Und du rückst jetzt erst damit heraus, nachdem wir Bärenberg schon fast erreicht haben? Jemand hat eine wirkungsvolle Waffe gegen Dämonen, eine Waffe, die jeder von uns bedienen kann, und du wolltest nicht einmal den Otterpfad entlangfahren?"

"Schau dir den Fluß an", beschwerte sich Pallys. "Er schäumt schon, und wir sind noch lange nicht an Dorns Schnellen angelangt. Es war verrückt, den Otterpfad zu befahren."

"Und du wußtest, daß ich auf jeden Fall hier entlangfahren würde, wenn ich gewußt hätte, daß es in Bärenberg einen Magier mit solchen Fähigkeiten gibt! Also hast du gar nichts gesagt."

"Nein... nein! Das war nicht meine Absicht! Aber... du mußt verstehen, ich habe Ghanzekk vor über vierzig Jahren kennengelernt. Vielleicht lebt er nicht mehr dort, oder er ist gestorben. Es ist nur eine kleine Chance... ich würde überhaupt nicht darauf setzen, wenn wir eine andere Wahl hätten. Es wäre besser gewesen, wir hätten den Otterpfad nie befahren, sondern die einfache Strecke genommen. Dann hätten wir nie in diesem Dorf angelegt, hätten nicht mit dem Dämon kämpfen müssen, Kaslin-Ray wäre nicht verletzt worden und der Stab wäre noch voll aufgeladen."

Khiray nickte langsam. "Du hast nicht ein einziges Mal daran gedacht, mir die Wahl zu überlassen. Du hast die Entscheidung an meiner Stelle getroffen, indem du uns einfach nichts von Ghanzekk verraten hast. Du manipulierst uns, indem du uns nur die Dinge erzählst, die uns auf einen dir genehmen Pfad führen."

"Wir sind nicht auf einem mir genehmen Pfad", wies ihn das Kaninchen hin. "Und wir wären auf dem anderen Fluß sicherer gewesen. Ich habe die ganze Zeit über recht gehabt."

"Das kannst du nicht wissen!" brauste Khiray auf. "Vielleicht haben die Dämonen dort auf uns gewartet, und wir wären längst tot! Warum verheimlichst du uns so viel? Was weißt du noch? Wie kann ich euer Kapitän sein, wenn du mir nicht einmal die lebenswichtigen Details verrätst? Bei den Göttern, Pallys, ich muß Entscheidungen treffen, die für uns Leben oder Tod bedeuten können, und du..."

"Ich bin sehr alt, und ich habe viel gesehen", sagte Pallys leise. "Vielleicht bist du einfach zu jung als Kapitän."

"Ich verstehe", stellte Khiray bitter fest. "Du hältst mich für unfähig, also entscheidest du nach eigenem Ermessen."

"Es gibt Dinge, die du nicht wissen kannst..."

"Dann erkläre sie mir! Hör auf, dich herauszureden! Du hast gelogen: du kennst die Dämonen, du hast bereits gegen sie gekämpft! Pallys, ich habe dich für einen Freund gehalten! Wie soll ich dir noch glauben?"

Das Kaninchen versteifte sich. "Das sind persönliche Dinge. Sie können uns in diesem Kampf nicht helfen. Ich habe alles gesagt, was ich weiß, alles, was uns von Nutzen sein könnte."

Der Fuchs sah ihm in die Augen. "Du lügst noch immer."

"Willst du die ganze Wahrheit hören?"

"Natürlich!"

Pallys lächelte hoffnungslos. "Der Armygan ist verloren. Keiner der Magier in Drun'kaal besitzt das nötige Wissen, um die Dämonen zu besiegen. Selbst alle zusammen können gegen die Dämonen höchstens ein Patt erzielen. Azzhuzzim Beladanar kann aus der Hölle ein gewaltiges Heer heraufbeschwören, das Drun'kaal dem Erdboden gleichmacht. Wenn wir es schaffen, in die Hauptstadt zu gelangen, sind Galbrens Pläne gescheitert, aber noch lange nicht die der Dämonen. Beladanar fürchtet die Erzengel, aber diese Furcht ist nicht so groß wie sein Stolz, sein Ehrgeiz, sein Zorn oder sein Trachten nach Rache. Und vielleicht hat er in seinen Jahrtausenden in der Hölle bereits ein Mittel gefunden, die Erzengel zu besiegen. Ihr werdet vielleicht nach Drun'kaal gelangen, aber dem Drunfürsten wird es nicht gelingen, die Invasion aufzuhalten."

"Was?" fragte Khiray fassungslos.

"Warum hast du uns dann geholfen?" wollte Saljin wissen. "Wenn alles verloren ist und der Armygan untergeht, warum begleitest du uns auf dieser Fahrt?"

Pallys sah zu Boden. "Ihr mögt es vielleicht nicht glauben, aber... Khiray, du bist mehr als nur ein Freund für mich. Du warst fast wie ein Sohn. Du hast Talente an dir, die du nie ganz benutzt hast. Ich hätte gerne gesehen, wenn du eine Universität besucht hättest. Du könntest ein Magier werden. Du... Wie hätte ich zulassen können, daß die Bären dich töten? Ich habe lange genug versucht, dich von deinem törichten Plan abzubringen. Und nachdem ich den Dämonen die Stirn geboten hatte, blieb mir keine Wahl, oder?"

"Aber deine Flucht ist sinnlos. Wenn die Dämonen den ganzen Armygan erobern, dann auch Drun'kaal!" Khiray hätte Pallys am liebsten gepackt und geschüttelt.

"Du verstehst immer noch nicht. In Drun'kaal liegen Schiffe, und jenseits von Drun'kaal liegt eine ganze Welt. Ich habe nicht die Absicht, in der Hauptstadt zu bleiben. Wir können die Heimatländer besuchen, das Imperium Dharwil bereisen, Länder durchqueren, von denen ihr noch nicht einmal gehört habt."

"Du willst fliehen? Den Armygan seinem Schicksal überlassen? All unsere Verwandten und Freunde den Dämonen überantworten?"

"Beladanar und die Magier des Drunfürsten werden sich eine gewaltige Schlacht liefern, und der Armygan wird unter einer Dämonenplage leiden", bestätigte Pallys. "Ich habe nicht vor, der Schlacht beizuwohnen. Aber früher oder später werden die Erzengel über die Dämonen siegen. Die Götter können es den Höllenkreaturen nicht erlauben, frei über die Welt zu streifen. Wenn Beladanar besiegt und die Tore zur Hölle verschlossen sind, wird das überlebende Fellvolk den Armygan wieder aufbauen. Selbst die Dämonen, selbst die gräßlichste Schlacht kann nicht alles und jeden töten. Irgendwann wird es einen neuen Armygan geben, ein neues Reich, und der Dämonenkrieg wird ins Reich der Legende verbannt werden. Vielleicht kehre ich dann zurück, in tausend Jahren oder zweitausend."

"Du sprichst von Verrat." Das Blut rauschte in Khirays Schläfen lauter als der Fluß.

"Ich spreche mit der Stimme der Vernunft. Tun wir nicht bereits alles, was wir können? Sag mir, was für einen Zweck hätte es, in Drun'kaal auszuharren und unser Leben zu opfern? Wozu? Um Kooradahs Armee um ein paar Mann zu vergrößern, die angesichts der Dämonen sowieso nichts zählen? Wir können den Drunfürsten warnen, sofern er uns Glauben schenkt. Wir können Galbrens Pläne durchkreuzen. Vielleicht irre ich mich, und Beladanar wagt keinen Angriff. Vielleicht gibt er sich damit zufrieden, Galbren in die Hölle zu schleppen. Aber die Dämonen haben lange gewartet, und sie sind nicht für ihre Geduld bekannt. Beladanar läßt sich nur durch einen Erzengel aufhalten, und um diesen zu rufen, bedarf es solcher Kräfte und solchen Wissens, wie sie im Armygan nicht zu finden sind."

"Kannst du einen Erzengel rufen?"

"Ich bin kein Zauberer", erinnerte Pallys ihn. "Ich bin ein Kaninchen mit ein paar magischen Spielsachen."

"Dann ist also alles verloren... alles..." Khiray spürte, wie das Blut aus seinen Ohren wich.

"Alles, was du je gekannt hast. Alles, was du dir für die Zukunft erhofft hast. Wenn Beladanar angreift, wird der Tod über das Land kommen, und selbst wenn du alles gibst, was du hast, einschließlich deines Lebens, wirst du dieses Schicksal nicht verhindern können." Pallys wandte sich brüsk ab und verschwand.

"Götter..." murmelte Khiray. Er wünschte, er hätte Pallys nicht gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Aber es war wahr. Sie hatten immer nur gehofft, Galbrens Eroberung Einhalt zu gebieten. Zwar war ihnen klar gewesen, daß Beladanar eigene Pläne haben mochte - aber wie diese aussehen würden, falls Galbren scheitern sollte, hatten sie nicht bedacht.

Ein Teil von ihm wollte Pallys der Feigheit bezichtigen, des Verrats, der Desertation. Aber das Kaninchen hatte recht: mehr als Kooradah zu warnen konnten sie nicht tun. Dieses Unterfangen allein kostete all ihre Kraft. Was später sein würde, lag nicht mehr in ihren Händen.

Er wünschte sich, er könnte das ganze Fellvolk warnen. Aber es war unmöglich: bis die Nachricht - so sie überhaupt Glauben fand - den Armygan durchquert hatte, hätte der Dämonenkrieg begonnen. Und wohin hätten sie gehen sollen?

Und wie hätte er im Armygan bleiben können, wenn Pallys Drun'kaal verließ? Er wollte den Dämonen nicht im Kampf gegenübertreten. Sie hätten keine Chance. Es war ein verlorener Krieg, ein Krieg, in dem nur die Magier allein irgendwelche Hoffnung auf überleben hatten.

Er konnte sich sehen, sich und Saljin, wie sie ein Schiff bestiegen - vielleicht ins Territorium der Fuchstauren, vielleicht in ein Land jenseits davon. Sie würden abreisen, und der Armygan würde hinter ihnen bleiben...

...und er hätte sein Land verraten, seine Freunde im Stich gelassen, seine Bekannten dem Tod überantwortet. Weil jede Alternative nur seinen eigenen Tod und sonst keinen Unterschied bedeutete. Weil er keine Wahl hatte.

Und selbst wenn der Krieg dann nicht stattfand, wenn Beladanar vor einer Konfrontation zurückschreckte, oder die Magier einen Erzengel riefen, oder der Erzengel von selbst auftauchte, oder wenn die Götter selbst aus ihren Reichen herabstiegen und das Dämonenheer zerschmetterten - er würde auf ewig mit dem Wissen leben müssen, was er getan hatte.

Ihm blieb nichts, als Delley und Kinnih und die anderen einzuweihen und sie mitzunehmen - die wenigen zu retten, die er retten konnte.

Aber er konnte es ihnen nicht sagen. Es hätte bedeutet, ihnen die Hoffnung zu nehmen, angesichts eines übermächtigen Gegners. Viel mehr als ihre Hoffnung hatten sie nicht. Er mußte schweigen. Saljin mußte schweigen.

Sie sahen sich an. Und plötzlich wußten sie, was Pallys bewegt hatte. Aber es war zu spät, einmal ausgesprochene Worte zurückzunehmen.


Ende von Kapitel Dreizehn