Kapitel Einundzwanzig


"Vierzehntausend Jahre scheinen eine lange Zeit zu sein, gemessen an einer einzelnen Lebensspanne. Doch für die Berge ist diese Zeit nur ein Augenblick, und das Leben der Berge selbst währt einen Herzschlag für den Geist der ganzen Welt. Obgleich die Zeit damals - die Zeit, als nicht einmal das legendäre Syrradrea existierte - so fern vom Heute erscheint, war diese Welt doch nicht viel jünger. Dieselben Völker besiedelten sie, dieselben närrischen Wesen vollbrachten dieselben närrischen Taten aus Liebe oder Haß, Trotz, Hoffnung oder Zorn. Sie mögen eure Ur-ur-urahnen gewesen sein, doch im Herzen waren sie nicht viel anders als ihr jetzt, denn es braucht mehr Äonen, um den Geist lebender Kreaturen zu verändern, als es den Wind kostet, einen Berg abzuschleifen.

Ich aber, ich war ein anderer damals. Besessen von Wanderlust und Abenteuergeist, reiste ich schon in jungen Jahren als Händler durch den mir bekannten Teil der Welt. Mein Bruder, Daylahain, begleitete mich. Doch während ich nach Erlebnissen gierte und Reichtümer hortete, lauschte er den Worten der Weisen, der Priester und der Mächtigen, und schmiedete Bande zwischen den versteut lebenden Völkern durch die Kraft seiner Vision.

Oh, wir hatten beide Visionen. Aber die meine bestand aus unermeßlichen Schätzen, ewiger Jugend und Macht. Nicht bösartige Macht, nicht Macht, um andere zu verletzen und zu unterdrücken, sondern nur, um all meine Träume, all meine Wünsche wahr werden zu lassen. Wir waren arm damals - obwohl meine guten Geschäfte das bald änderten -, und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als in einem goldverzierten Marmorpalast zu wohnen, zu essen, was und wann ich wollte und stets die Gesellschaft schöner Mädchen zu genießen. Einfache Träume.

Mein Bruder war der Meinung, nicht das Haben sei das Wesentliche, sondern der Wunsch. Ich verstand ihn nicht. Ich begann reich zu werden. Ich ging Risiken ein und wurde belohnt. Das Glück war mit mir. Ich hatte kühne Ideen, und fast jede trug Früchte.

Daylahain war nicht untätig, auch er wurde wohlhabend. Aber wo ich meinen Marmorpalast errichtete, setzte er sein Gold ein, um unsichtbare Bänder zu schmieden, Ketten aus Gedanken, die die einzelnen kleinen Reiche dieser Zeit später zu einem mächtigen Gebilde fügen sollten. Er wurde ein Fürst, ein mächtiger Mann. Ich wurde reich und auf meine Weise mächtig. Doch eines war, das ich nicht verstand: Weshalb war Daylahain zufriedener als ich? Ehe ich mein dreißigstes Jahr erreicht hatte, standen goldene Statuen in den Hallen meiner Heimatstadt, die ich selbst aus dem Dorf von einst geformt hatte. Aber glücklich war ich nicht. Ich verstand Daylahains Vision, doch ich verstand nicht, wie er selbst daraus profitieren sollte. Selbst wenn er sich zum König eines Imperiums machte, hatte er für sich selbst nicht mehr gewonnen, als ich bereits besaß.

Und ich wurde rastlos und unzufrieden, mürrisch und argwöhnisch. Ich sah den großen Feind um die Ecken blicken - das Alter. Oh, Gold konnte mir Magie erkaufen, die meine Gesundheit bis ins hohe Alter erhielt. Gold konnte mir Jahre meines Lebens kaufen, wenn ich wollte. Meine Stadt hatte eine Akademie der Magier, die ich dort in meinem Stolz eingerichtet hatte, und dank meiner Zuwendungen würden die Magier dort alles für mich tun.

Aber am Ende würde der Tod mich verschlingen. Ich war immer noch jung damals, aber die Gedanken an mein eigenes Ende machten mich elend und alt im Geiste. Daylahain spürte diese Furcht nicht. Er war dabei, etwas zu formen, was über seinen Tod hinaus Bestand hatte und seinen Namen für Jahrhunderte überdauern lassen würde. Ich verstand das damals nicht. Er formte nicht nur ein Reich, sondern eine Idee.

Und er fürchtete den Tod nicht. Ich begann zornig auf ihn zu werden, weil er meine Ängste nicht teilte. Ich verbrachte einen Teil des Tages mit nichts anderem, als darüber nachzudenken, wie ich den Tod überlisten konnte.

Ich besuchte häufig die Akademie. Nein, ich belästigte niemanden mit meinen Gedanken, denn ich glaubte, daß insgeheim jedermann so besessen vom Tod sei wie ich, nur daß es niemand zugab. Ich glaubte, daß all diese Magier nur deshalb Magier geworden waren, weil sie den Tod übertölpeln wollten, und daß sie alle eigentlich nur auf dieses Ziel hinarbeiteten. Sie taten ja bereits, was ich von ihnen erwartete, und so war ich zufrieden, ihnen nur zuzusehen und zu lauschen.

Doch allmählich beschlichen mich Zweifel. Die Magier gingen allen nur denkbaren Fragen nach, von denen ich nicht immer alle verstand. Und der Tod schien sie nur am Rande zu beschäftigen. Nicht einmal dann, wenn einer der Ihren starb, zeigten sie die Unruhe, die in meinem Herzen täglich zunahm. Sie schienen den Tod zu verstehen und zu akzeptieren, und das war etwas, das ich niemals tun konnte.

Ich war beinahe so weit, sie darauf anzusprechen und Forderungen zu stellen, gewissermaßen als Lohn für das Gold, mit dem ich die Akademie unterstützte. Doch ich traf Ghanzekk, den Leoparden, einen Meister der Magie, der etwa in meinem Alter war und ebenso wie ich über den Tod nachgrübelte. Er war noch nicht so besessen wie ich - oder vielleicht war er es, und meine Erinnerung spielt mir einen Streich, denn damals war ich selbst das Zentrum des Universums, und ich maß alle Dinge allein an mir selbst.

Wir redeten miteinander und wurden Freunde und vertrauten uns unsere Geheimnisse an. So erfuhr ich vom Hort der Unsterblichen und dem unermeßlichen Lohn, den er für jene barg, die es wagten, ihn aufzusuchen - dem ewigen Leben. Ghanzekk war entschlossen, die Akademie zu verlassen und ihn zu suchen. Ich war bereit, ihm zu folgen. Mein Gold und seine Kräfte würden uns durch die unbekannten Weiten helfen, die jenseits der bekannten Grenzen lagen.

Ich übergab meine Geschäfte Treuhändern, die ihr Geschick bereits bewiesen hatten - meine Obsession ließ mir nicht immer die Zeit, selbst Reichtum anzuhäufen; stattdessen überließ ich die Arbeit meinen Lakaien.

Dann zogen wir aus. Wir wanderten durch eine Welt, die voller Geheimnisse und Wunder war. Men'schin und andere fremde Wesen begegneten uns; Imperien und kleine versteckte Fürstentümer hießen uns willkommen. Wir häuften Wissen an und stellten Fragen, folgten Spuren und erhielten kleine Stücke von großen Antworten.

Mein Gold ging niemals zuende. Ich sah immer wieder Gelegenheiten und nahm sie wahr, begann Geschäfte, während Ghanzekk der Wahrheit hinter den Mythen auf den Grund ging. Manchmal blieben wir ein Jahr oder mehr in einem einzigen Teil der Welt, und das Gold schien an meinen Fingern klebenzubleiben.

Aber ich spürte meine Zeit verrinnen. Die Jahre kamen und gingen, und trotz allen Suchens fanden wir den geheimnisvollen Ort nicht. Wir deckten manches Rätsel auf und erforschten verlorene Kulturen, wir wanderten durch vergessene Städte und ergötzten uns am Glanz verborgener Schätze. Aber der Schatz, den wir suchten, war weitaus größer. Es war der größte Schatz, der überhaupt möglich war, die Belohnung für ein unstetes Leben in all den Jahrzehnten. Und irgendwie enthielten die Götter es uns vor, wo wir doch längst der Überzeugung waren, es verdient zu haben.

Dann endlich, in einem Land der Drachen und der Steine, fanden wir die Wahrheit - und den Weg zum Hort der Unsterblichen. Es dauerte abermals ein halbes Dutzend Jahre, ehe wir den Weg bewältigt hatten. Ich hatte mein fünfzigstes Jahr längst überschritten, als wir vor den Toren des Hortes standen, in einer Einöde aus Eis und Schnee.

Die Götter erfüllten unseren Wunsch. Sie machten uns unsterblich. Nach so vielen Jahren hatten wir das Ende des Weges erreicht und konnten heimkehren, um die Früchte der Mühen zu genießen."

"Wie ist der Hort der Unsterblichen?" fragte Khiray.

"Ich hätte erwartet, daß du 'Wo' fragst", gab Pallys zurück.

"Ich glaube nicht, daß ich das wirklich wissen will", stellte der Fuchs fest.

Pallys nickte. "Dann bist du weiser, als ich es war. - Es ist eine Festung aus Eis und Kristall, ein kalter und unnahbarer Ort. Niemand lebt dort außer einem Gott und seinen Erzengeln, und auch sie sind nicht wirklich dort zuhause - es ist, als werfen sie einen Schatten in diese Welt, und dieser Schatten ist es, dem wir im Hort begegnet sind. Der Hort ist voller Licht, selbst wenn es draußen schwärzeste Nacht ist, aber es ist ein kaltes Licht, freudlos und unnahbar, wie die Götter selbst. Man spürt die Geister längst vergangener Zeiten in den gigantischen Hallen, und die Seelen einstmaliger Besucher irren durch die fensterlosen, spiegelnden Korridore mit ihren unermeßlichen Säulengängen unter asymmetrischen Eiszapfengewölben. Die eigenen Schritte haben ein hohles Echo, und wenn du sprichst, hast du das Gefühl, als wärest nicht du selbst es, der deine Worte formt.

Das Gebein der Erde erhebt sich unter dem Eis, und ein Thron aus den elfenbeinernen, lebenden Knochen der Welt steht im Zentrum des Horts. Hier kann man mit einem Gott sprechen, wenn man es wagt, und den Preis einfordern. Tausend oder mehr Bewohner dieser Welt haben dort schon gestanden, und der Gott hat sie zu Unsterblichen erhoben. Aber niemandem ist es gestattet, zu verweilen; noch legt irgend jemand darauf Wert. Der Hort ist ein Ort, der dir die Seele aussaugt, wenn du zu lange bleibst, und wenn du im Übermaß in die eisigen Spiegel starrst, verlierst du deinen Geist in ihnen und wirst zu einem der heulenden Gespenster, die auf dem Eissturm durch die Höhlen und Gänge reiten.

So gingen wir nach Hause, was nicht ganz sechs Jahre kostete, weil wir auf dem Rückweg in meinen Häusern wohnen, von meinem Gold leben und meine Fahrzeuge benutzen konnten. All die Dinge, die ich auf dem langen Weg erworben hatte, waren noch da, treu verwaltet von ergebenen und sehr gut entlohnten Dienern.

Ich kann mir denken, was ihr nun erwartet. Verrat zuhause, Fremde in meinem Heim, Intriganten, die mein Vermögen an sich gerissen haben. Aber dem war nicht so. Als wir nach mehr als dreißig Jahren heimkehrten, war Syrradrea entstanden, ein mächtiger Bund von Staaten unter einer gemeinsamen Krone, und diese Krone saß auf dem Haupte meines Bruders. Daylahain war ein König geworden, und er hatte dieses Ziel ohne Blutvergießen und Feindseligkeiten erreicht. Er herrschte über zufriedene Fürsten und glückliche Bürger. Blühende neue Städte waren entstanden, und meine Heimatstadt war eine gewaltige Metropole geworden. Die Treuhänder hatten meinen Besitz noch gemehrt, und wiewohl es den einen oder anderen Rückschlag gegeben hatte, gehörte mir mehr Gold, als ich in tausend Jahren ausgeben konnte.

Nur daß mein Leben länger als tausend Jahre währen würde. Viel länger. Und dafür mußte ich Vorsorge treffen.

Mein Bruder begrüßte mich persönlich. Wir sprachen lange miteinander, und wir gratulierten uns gegenseitig dazu, uns den Lebenstraum erfüllt zu haben. Er war ein Herrscher, ich war unsterblich.

Aber das Lachen seiner Untertanen machte ihn glücklich. Er erfreute sich am Spiel der Kinder, am Reichtum der Felder, an all den neuen Erfindungen und Geräten, die im Laufe der Jahre gebaut worden waren Er bewunderte die Schule der Philosophen, die die Friedensjahre besangen und daran arbeiteten, Gesetze und Regeln zu erstellen, die bis in alle Ewigkeit das mächtige, wundervolle Syrradrea erhalten sollten. Daylahain hatte drei Frauen, zwölf Kinder und einunddreißig Enkelkinder, und obwohl er alt geworden war, war er zufrieden.

Und ich - ich war nur alt geworden. Der Hort der Unsterblichen hatte mir das ewige Leben gegeben, aber meine Jugend hatte ich nicht zurückerhalten. Mein Bruder war während der letzten fünf Jahre gealtert, und er war der Ältere von uns gewesen, aber dennoch sah ich älter aus als er. Er hatte ein Leben gelebt, während ich nur einem Traum nachgejagt war. Er hatte eine Familie, während ich nicht einmal wußte, ob ich auf dem langen Weg irgendwo ein Kind hinterlassen hatte.

Ich überzeugte mich selbst davon, daß ich nicht zu alt für das Leben war. Ich nutzte das Gold, um mich voll und ganz dem Genuß hinzugeben. Mehr als zwanzig Jahre lang wälzte ich mich in dekadenten Freuden. Mein Bruder starb in dieser Zeit, und ein anderer König bestieg den Thron, eingeschworen auf die Ritterschaft und die Gesetze.

Als Daylahain starb, frohlockte ich. Mein Traum hatte mich weiter gebracht als der seine. Ich würde bis in alle Ewigkeit so weitermachen können, und er hatte sein Leben und seine Hoffnungen hinter sich.

Aber mit den verstreichenden Jahren wurde mir klar, wie leer das Leben war. Ich war bereits reich, ich war unsterblich, ich konnte tun, was ich wollte. Nachdem ich alles Lustvolle getan und gesehen hatte, was in meiner Stadt möglich war, kehrte meine Besinnung zurück, und ich ging wieder an die Arbeit. Befreit von der Furcht vor dem Tod, glaubte ich nun höchst effizient und klug wirtschaften zu können, glaubte, glücklich zu sein.

Doch dem war nicht so. Was liegt hinter den Träumen, was bleibt, wenn man alles erreicht hat? Ich wußte nichts mehr zu schaffen. Gold, Gold... alles was ich hatte war Gold. Frauen konnte ich kaufen. Jeder wußte, wer ich war. Jeder wußte, was ich war. Jeder versuchte, von meiner Bekanntschaft zu profitieren. Ich ließ sie gewähren, gab von meinem Gold her, fühlte mich einsam in meinem Marmorpalast selbst in der Gesellschaft eines Dutzend junger Mädchen. Da war nichts für mich geblieben.

Und Daylahain? Er hatte eine Familie gehabt. Er hatte dieses Reich errichtet. Alles was ich sah, war sein Werk. Die Kunst, die Erfindungen. Die Paläste, die Prachtstraßen, die silbernen Dächer. Syrradrea war von ihm geschaffen worden. Jeden Morgen beteten die Priester in seinem Namen zu den Göttern. Jeder Eid der Ritterschaft enthielt seinen Namen. In den Schulen und Universitäten wurde er geehrt. Sein Werk überdauerte ihn.

Meine Treuhänder hatten Statuen gekauft und in der Eingangshalle aufgestellt. Sie trugen seine Züge.

Jahrhunderte verstrichen. Irgendwann zog ich mich in ein einzelnes Kämmerchen meines Palastes zurück, lebte dort vor mich hin. Man kannte meinen Namen, aber ich war ein Sonderling, jemand, dem Unsterblichkeit und Reichtum kein Glück gebracht hatten. Nach fünfhundert Jahren hatte ich genug. Von ewigem Leben hatte ich geträumt, aber nicht auf diese Weise. Mein Bruder hatte sein Leben gelebt und genossen, während das meine an mir vorübergezogen war, als ich nur die Hand hätte ausstrecken und es einfangen brauchen.

So ging ich wieder an die Universität und traf Ghanzekk. Er war natürlich inzwischen der Leiter des Instituts, und er war mit seinem Los ungleich zufriedener als ich. Er hatte noch Träume übrig gehabt, Träume jenseits des ewigen Lebens, und sein Begehren trieb ihn an. Er war weit gereist in den Jahrhunderten und hatte großes Wissen und Macht nach Syrradrea gebracht. Das Reich dehnte sich in Frieden aus, indem sich immer neue Fürstentümer und Landstriche anschlossen, unter der Hand guter Könige und mächtiger Zauberer, und kein Krieg erschütterte jemals das Land.

Ich wollte auf die Suche gehen, mir einen neuen Traum schaffen. Etwas, das mich meinem Bruder gleichwertig machte, etwas, das mich seinen ewigen Schatten vergessen ließ. Ghanzekk ließ sich überreden, mit mir zu gehen. Ihm vertraute ich wie keinem anderen, mit ihm verband mich alles, was mein Leben ausmachte.

Wir streiften hundert Jahre oder mehr durch die Welt, wir kamen weiter als je zuvor. Ich will euch hier nicht von dieser Zeit berichten; es war eine Epoche der Abenteuer und Erlebnisse, und ich fühlte mich fast so, als erfülle mich wieder Leben.

Doch als wir heimkehrten, lag Syrradrea in Schutt und Asche. Ein mächtiges, benachbartes Reich hatte Syrradrea als Bedrohung empfunden und sein Heer ausgesandt. Das allein hätte den Untergang nicht bewirkt, doch der König auf dem Thron war ein Schwächling, der erste Narr seit Jahrhunderten, der die Krone trug. Ein Weiser hätte die Lage verändern, den Krieg abwenden können, aber dieser König war keiner.

Der Krieg hatte das Land zerfleischt und in Jahrzehnten beide Reiche in den Untergang getrieben. Die Wurzeln des Krieges keimten und säten Haß zu allen Seiten, und die Barbaren sahen leichte Beute und fielen ein. Das Land war verwüstet, mein Vermögen verloren, die Schönheit zertrampelt.

Andere Reiche entstanden an dieser Stelle. Achttausend Jahre später sollten hier die Heimatländer, die Urheimat der Felligen, blühen, nachdem die Barbaren zivilisiert waren und andere Stämme aus der Wildnis sich mit ihnen vermischten. Aber in diesem Moment sah ich nur Ruinen.

So verließen Ghanzekk und ich das Land. Es war nicht nur ein Reich, das verlorengegangen war, sondern ein Traum, eine Idee. Geschichten über Syrradrea sollten die Jahrtausende überdauern, doch was einst Wahrheit gewesen war, wurde darin zu einer Legende.

Mit dem Untergang Syrradreas und dem Verlust meines Vermögens - dieses Teils meines Vermögens, jedenfalls - schien auch meine glückliche Hand für Geschäfte dahingegangen zu sein. Nein, vielleicht hatte ich auch nur die Lust am Reichtum verloren; hungern mußte ich nie, wann immer ich wirklich in Not war, gelang mir ein gutes Geschäft, und im Falle eines Falles hatte ich noch immer Vermögen in vielen Ländern, versteckte Schätze, die nur ich auffinden konnte, und Diener, die in meinem Namen arbeiteten, obgleich sie mich selbst längst für tot halten mußten.

Aber ich zog weitgehend mittellos durch die Welt, eine lange Zeit. Ich war ein unsteter Wanderer geworden. Ghanzekk ging eigene Wege, er war zwar seiner Akademie beraubt, doch nicht seiner Ziele. Ich aber... ich sah die Welt. Sah sie so, wie sie ist, voller Haß und Schmutz und Eigennutz. Ich sah Reiche kommen und gehen - Bündnisse entstehen und zerfallen. Wenn ich eine Stadt besuchte, sah ich bereits, wie sie hundert oder tausend Jahre später in Ruinen liegen würde, und kehrte ich später zurück, so fand ich mich fast immer bestätigt. Ich sah Zerfall und Tod, um so deutlicher, da ich selbst für ewig unveränderlich blieb. Meine Narben heilten, die ich mir in kleinen Scharmützeln einfing; als ich einmal eine Hand verlor, wuchs sie im Laufe von zwanzig Jahren nach. Doch ich blieb der Gewalt meist fern und beobachtete nur, was die sogenannten intelligenten Wesen dieser Welt einander antaten.

Mehr als sechs Jahrtausende vergingen auf diese Weise. Manchmal blieb ich fast ein Leben lang an einer Stelle, doch ich offenbarte meine Unsterblichkeit niemandem, und so mußte ich weiterziehen, wann immer ein Verdacht gegen mich geäußert wurde. In manchen Teilen der Welt gibt es keine Magie, und in anderen ist sie nicht gern gesehen.

Dann traf ich Ghanzekk wieder. Er war nicht glücklich. Er hatte seine Kunst vervollkommnet, sein Wissen verfeinert, und war an einem Punkt angelangt, wo allein sein Talent seine Macht noch beschränkte. Und dieses Talent war nicht groß genug. Er verriet mir nie, was er sich erträumte, doch ich konnte es aus seinen Reden erraten: er wünschte sich, ein Wesen vollkommenen Geistes zu werden, befreit von den Beschwerlichkeiten eines Körpers, bestehend aus schierer Macht, den Erzengeln gleich - wenn nicht den Göttern.

Euch mag das ungeheuerlich erscheinen - euch Sterblichen. Aber wenn man Jahrtausende verbracht hat und dabei gewaltige Kräfte ansammelt, wenn man sein Leben im Glanz unvorstellbarer Macht gelebt hat, dann träumt man von größeren Dingen, als ihr es wagt. Ghanzekk war einer der größten Magier der Welt. Nur die Erzengel konnten ihm Einhalt gebieten. Hätte er nach weltlicher Macht gestrebt - und die Erzengel es zugelassen -, so hätte er sich zum Herrn der ganzen Welt aufschwingen können.

Aber dies lag ihm fern. Er wollte die Begrenztheit seines Körpers und seines Geistes abschütteln und die letzten Wahrheiten begreifen, die jenseits der Sterblichkeit liegen.

Sein Talent jedoch verhinderte dies. Er mußte einsehen, daß Zeit und Macht und Wissen ihm dies nicht erkaufen konnten: sein Traum war unerreichbar. Für eine gewisse Zeit lebten wir zusammen und bemitleideten uns - wohlgemerkt uns selbst, nicht uns gegenseitig. Meine Talente erwachten wieder, und ich erhandelte uns bescheidenen Wohlstand.

Dann hörten wir davon, daß Dämonen ein Land angriffen, das ganz in unserer Nähe lag. Dämonen? Ghanzekk hatte eine Vorstellung davon, was sie waren. Er konnte über die Grenzen unserer Ebene und Sphäre hinaus blicken und seinen astralen Körper ausschicken. Er wußte, daß sie ungeheuer bösartig und grausam waren, und er sah in ihnen eine neue, angemessene Herausforderung.

Ich begleitete ihn. Ich hatte den Eindruck, daß Magie mich nicht berührte und daß ein magisches Duell, wie Ghanzekk es plante, mich nicht gefährden konnte - nicht in der Weise, wie es Kriege, Räuber oder Katastrophen taten. Und mein Gold konnte Ghanzekk, meinem Freund, Unterstützung erkaufen.

Wie sehr ich mich doch irrte...

Als wir in jenem Land angelangt waren - eine halbe Welt von hier entfernt -, erfuhren wir, daß ein gewaltiger Zauberer namens Khurudarn sich Dämonen untertan gemacht hatte und nun mit deren Hilfe ein Land nach dem anderen unterjochte. Die Dämonen hatten mit seiner Hilfe eine Form der Magie entwickelt, die sie vor den Augen der Erzengel schützte. Dieses Zauberers Ziel war, was Ghanzekk für sich längst zurückgewiesen hatte - die Welt zu beherrschen.

Die Invasion war seit Jahren schon in Gange. Verbrannte Länder und vernichtete Völker säumten den Weg Khurudarns und seiner Dämonen. Wir nahmen den Kampf auf, an der Seite der wenigen, die noch Widerstand wagten. Darunter war auch ein weiterer Zauberer, Anzikhed, der sich schon seit langem mit Dämonen und Erzengeln befaßt hatte. Er war der einzige Grund, weshalb der Widerstand noch nicht gescheitert und die tapferen Verteidiger dem Tode anheimgefallen waren.

Ich wurde Zeuge eines zauberischen Meisterkampfes. Ghanzekk und Anzikhed bekämpften Khurudarn und seine Dämonen mit allen Mitteln, und das waren nicht wenige - von den Energien des Himmels bis zu den Gewalten der Erde. Ich glaube, im Kampf lernte Ghanzekk mehr über die Dämonen als in all seinen Studien. Und ich, der mich mächtig gedünkt hatte - ich war hilflos, ein Zuschauer im Gemenge der Titanen, ein Spielball der feurigen Kräfte.

Und am Ende siegten die Dämonen. Azzhuzzim Beladanar, der Herr der Würmer, schloß einen Pakt mit Khurudarn und wurde zum Befehlshaber seiner Armee. Beladanar war ein Meister der Macht und der Strategie, und mit seinen Kräften vervielfachte sich der Einfluß des Zauberers. Ghanzekk und Anzikhed wurden niedergeworfen, und während Ghanzekk in die Hölle entführt wurde, verwüsteten die Dämonen unsere Feste und trieben ihre Spiele mit den Überlebenden. Ich und Anzikhed gehörten dazu - Anzikhed, der sich in einen Mantel der Illusionen kleidete und sich so vor Beladanars Auge verborgen hielt.

Wir überlebten die Siegesfeier der Dämonen, wir überlebten die Gefangenschaft danach, während Khurudarn sein neues Reich errichtete. Irgendwie erregten wir nie Beladanars Aufmerksamkeit, wahrscheinlich, weil er bloßen Sterblichen zu weit überlegen war, um sie zu fürchten. Ich weiß nicht, ob er uns vielleicht ignorierte, oder ob er uns einfach nicht erkennen konnte, wie wir eine Ameise nicht von der anderen unterscheiden können, wenn sie uns nicht gerade beißt - jedenfalls verbrachten wir schließlich die Jahre unbehelligt im Kerker, in den man uns geworfen hatte, um langsam zu verrotten. Ich und Anzikhed waren die einzigen Überlebenden, und von Ghanzekk hörten wir nie wieder etwas. Wir nahmen an, daß die Dämonen ihn getötet hatten.

Die Jahre bei trockenem Brot und Wasser in der Gesellschaft von Ratten hatten jedoch ein Gutes: die Dämonen widmeten sich nicht unserer Folter, wie sie es anfangs getan hatten, und unsere Körper heilten wieder. Ich war unsterblich und mit erstaunlichen Kräften der Regeneration ausgestattet, Anzikhed war ein Magier - und wenngleich er seine Kraft nicht voll ausspielen konnte, so reichte es doch, ihn nicht an seinen entzündeten Wunden und dem ewigen nagenden Hunger zugrunde gehen zu lassen. Meine Hände wuchsen nach, meine Augen - obgleich das nicht besonders aufregend war, gab es doch wenig zu sehen außer dem gelegentlichen Fackelschein, wenn man sich an uns erinnerte und etwas zu essen brachte. Und auch andere Verletzungen... verschwanden.

Ich gelangte zu der Überzeugung, daß Khurudarn uns längst vergessen hatte und daß allein die Gewohnheit der Kerkermeister dafür sorgte, daß man sich noch um uns kümmerte. Vielleicht hätten wir sogar einen Ausbruch gewagt, nach zwanzig oder vielleicht dreißig Jahren in der Dunkelheit, doch wohin hätten wir gehen sollen? Khurudarns Dämonenreich mußte inzwischen die ganze Welt überziehen - er war unbesiegbar gewesen. Nein, es war sicherer, im Kerker Khurudarns Ende abzuwarten. Das eine Privileg der Unsterblichkeit: man kann seine Zeit erwarten, man kann ausharren über Jahre, die jeden anderen in den Wahnsinn treiben würden.

Anzikhed war nicht unsterblich, und ich erfuhr nie, welche Pläne und Hoffnungen er hegte. In all den Jahren sprachen wir über so viele Dinge, doch wenn es daran ging, das Ende der Dämonenherrschaft zu besprechen, so verfiel er stets in eisiges Schweigen. Er konnte seine Niederlage nie verwinden.

Eines Tages warf man einen neuen Gefangenen in die Zelle. Es war Ghanzekk. Die Dämonen waren schließlich seiner müde geworden. Aber der einst mächtige Leopard war kaum mehr ein denkendes, fühlendes Wesen. Sein Geist weilte in einer anderen Welt, und sein Körper war so zugerichtet, daß nicht einmal ich ihn sofort erkannte. Ich will nicht beschreiben, was die Dämonen ihm angetan hatten, und vieles habe ich auch niemals erfahren. Aber er heilte wie ich zuvor, sein Körper jedenfalls, während sein Selbst durch die Dunkelheit wanderte.

Schließlich starb der Kerkermeister. Sein Leben, wenn schon nicht Khurudarns, hatten wir überdauert. Der neue Meister, einst ein Küchengehilfe, der in der Gunst der Mächtigen gefallen war, sprach in seiner Langeweile und seinem eingebildeten Elend mit uns, und so erfuhren wir von den Zuständen draußen.

Nach dem Fall der Verteidiger hatte Khurudarn zehn weitere Länder erobert, doch dann war sein Feldzug ins Stocken gekommen. Der Zauberer hatte eine große Gefahr für sich gewittert, und wenngleich er ein machtbesessener Wahnsinniger war, dumm war er nicht. Er hatte sich mit dem begnügt, was er bereits besaß, und das Land in seinem Eisengriff erstickt. Was immer diese Gefahr war, sie schien nun erloschen, denn Khurudarn hatte seine alten Pakte reaktiviert und die Dämonen erneut auf die Erde gerufen. Er war bereit, seine Pläne weiterzuführen.

Ich war nicht überzeugt, daß jemand ihn aufhalten konnte - selbst die einzige, mysteriöse Gefahr, die ihn jemals hatte innehalten lassen, war vergangen, was konnte ihm nun noch schaden? Aber als Anzikhed davon hörte, erwachte er zu neuem Leben, und er begann unsere Flucht zu planen. Er setzte seine Magie ein, um den Geist des Kerkermeisters zu umnebeln, und als Khurudarn auf einem neuen Feldzug seine düstere Stadt verlassen hatte, entkamen wir dem Kerker. Wir flohen viele Wochen durch Berge und Täler, Ghanzekks Körper immer mit uns tragend, bis wir einen Platz erreicht hatten, den Anzikhed als seinen Ort der Macht bezeichnete. Wir hatten unsere Spuren verwischt und uns eine Atempause verschafft, und in dieser Zeit lehrte mich Anzikhed einen Teil seiner Magie.

Er sprach davon, wie Orte der Macht entstehen. Jedes lebende Wesen, insbesondere die denkenden und fühlenden Kreaturen dieser Welt, besteht aus vielen mystischen Teilen. Ein Teil nur ist der Körper, ein anderer der wache Geist, ein dritter ist die unsterbliche Seele, die dem Geist die Bewußtheit einhaucht und viele Körper überleben kann. Einer dieser Teile ist magische Energie, die aus dem Urgrund aller Dinge stammt, Energie des Chaos, die im Herzen jedes noch so kleinen Splitters verborgen ist. Stirbt der Körper, so wird ein Teil dieser Energie freigesetzt. Manchmal bindet sie den Geist, wenn der Tod zur falschen Stunde kam und die unruhige Seele nicht rasten kann. Manchmal wird sie freigesetzt und entflieht zu den Sternen. Und manchmal erlischt der Geist, und die Seele geht ihren Weg, aber die Energie verharrt - versinkt im Boden, verschmilzt mit den Bäumen, wird eins mit dem Stein.

Nun ist es so, daß derlei Dinge häufig am Ort großer Schlachten geschehen. Oder dort, wo der Tod viele Leben gefordert und viel Leid hinterlassen hat, wie etwa bei einer Flut oder einem Feuer. Es gibt andere Ereignisse, die magische Energie binden, doch dies ist das häufigste, und so war es auch hier: an jenem Ort nämlich hatte Anzikhed seine erste Schlacht gegen Khurudarn verloren, und seine Heimatstadt war der Vernichtung anheimgefallen.

Energie aber ist nicht gleich Energie. Sonnenfeuer ist für einen Magier etwas anderes als ein Beben in der Erde oder ein Blitz aus den Wolken. Und auch bei den für uns unsichtbaren magischen Energien ist es ähnlich. Es gibt Energien, auf die ein Magier keinen Zugriff hat, die ihm entgleiten wie ein Fisch dem Angler. Aber wenn eine Affinität zwischen dem Magier und der Energie besteht, eine Verbindung irgendeiner Art, so kann er sie einfangen und für sich nutzen, umleiten und lenken ganz nach seinem Willen.

Die Energie dieses Ortes, und selbst die Energie der Geister, die dort umgingen, besaßen eine Verbindung zu Anzikheds Seele, denn es war sein Volk, das an dieser Stelle untergegangen war, und er selbst hatte dort um sein Leben gekämpft. So konnte er all diese Macht ergreifen und auf sich vereinen, und während er die Kraft für seine Tat sammelte, erschienen die Geister, die an diesem Ort ausgeharrt hatten, um sich mit dieser Macht zu vereinen. Der Magier hatte mir erklärt, wie er es tat, und wohl hundertmal die Worte und die Gesten geübt, bis ich selbst die mystischen Mächte in mir spürte und sicher war, daß ich es selbst eines Tages tun könnte, wenn es erforderlich wäre.

Und so rief er den Erzengel mit all seiner Macht und der Macht der zehntausend Toten, und der Erzengel kam in einem Meer aus Feuer.

Und als ich ihm erklärt hatte, was geschah und wie sich Dämonen vor seinem Blick verbargen, schritt er aus und trat Khurudarn, Beladanar und all den Dämonen entgegen. Ich aber nahm Ghanzekks Körper und floh, denn dies war eine Schlacht, die ich nicht mitansehen wollte.

Wir lebten wohl hundert Jahre im Verborgenen, als Bauern auf einem Hof weitab von Khurudarns Reich, bis alle lebenden Zeugen jener entsetzlichen Jahre verstorben waren und nur wir blieben. Es dauerte Jahrzehnte, bis Ghanzekk wiederhergestellt war, und weitere Jahrzehnte, bis sein Lebenswille wieder erwachte. Vielleicht zwang sein unsterblicher Körper endlich seine Seele zur Ruhe; jedenfalls erwachte er eines Tages aus seinem langen Schlaf und begann, Pläne zu schmieden.

Er wollte die Dämonen vernichten. Nicht nur jene, die auf der Welt waren - die hatte der Erzengel längst in die Hölle zurückgetrieben. Nein, er wollte die Hölle selbst zerstören, oder jedenfalls alle Dämonen, die darinnen hausten.

Wir stritten uns. Ich hatte ihn so lange gepflegt, daß ich nicht wollte, daß er sein Leben in einem hoffnungslosen Kampf wegwarf. Wenn nur Erzengel einen Fürsten der Dämonen schlagen können, und selbst sie es nicht wagen, die Hölle selbst zu betreten, dann mußte er Kräfte besitzen, die über die eines Erzengels hinausgingen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Er aber erwiderte, daß er tun könnte, was er wollte, und daß ich nichts von Magie verstünde - womit er recht hatte - und daher nicht beurteilen könne, wie seine Chancen in diesem Kampf waren. Schließlich trennten wir uns im Streit, und er begann seine siebentausend Jahre währenden Studien auf dem Gebiet der Dämonenkunde.

Ich aber lebte einfach weiter. Ich erfuhr später, daß Beladanar dem Zorn des Erzengels entkommen war - der Erzengel hatte Khurudarn zuerst getötet, damit den Pakt zwischen dem Zauberer und dem Dämonen aufgehoben und Beladanar die Flucht in die Hölle ermöglicht. Oder vielmehr hatte das Aufheben des Paktes selbst die Folge, daß Beladanar in die Hölle zurückgesogen wurde, denn es sind die Mächte des Paktes, die den Dämonen den Übertritt von jener in diese Welt erlauben. Hunderte von Dämonen waren erschlagen worden, und Khurudarns Heer war in alle Winde verstreut."

"Oromar!" fiel Khiray ihm ins Wort. "Ich habe einmal davon gelesen! Ich wußte gleich, daß mir Khurudarns Name so bekannt vorkam! Diese Schlacht war der Zorn von Oromar!"

"Richtig", seufzte das Kaninchen. "Obwohl die alte Geschichte die Wirklichkeit nicht annähernd wiedergibt. Nun, ich habe dir alles erzählt: die Geschichte meiner Unsterblichkeit, die Geschichte von Syrradrea, die Geschichte von Ghanzekk und mir, und die Geschichte, wie ich Beladanar zum ersten Mal begegnet bin. Obwohl ich eigentlich ihn selbst nie wirklich gesehen hatte, damals. Verstehst du nun, warum ich lieber darüber schweige?"

Khiray nickte. Die Gedanken in seinem Kopf rasten: Jahre im Kerker und in der Gefangenschaft der Dämonen, ein vieltausendjähriges Leben... es war plötzlich nicht einfacher, sondern noch schwieriger geworden, Pallys zu verstehen.

"Nein", warf Saljin ein. "Eines hast du uns nicht gesagt."

"Ah", stöhnte Pallys.

"Was denn?" fragte Khiray. Er überlegte, was die Fuchstaurin meinen konnte.

"Die Orte der Macht. Warum sind die Ruinen von Alvanere für dich ein Ort der Macht?" Die Fuchstaurin war unerbittlich. Khiray erkannte, daß er die Frage selbst hätte stellen sollen, aber auf der anderen Seite konnte er nicht erwarten, jedes von Pallys' Geheimnissen erklärt zu bekommen. Es mochte Tausende davon geben, tausend Geschichten...

"Ich habe einmal dort gelebt", brummte Pallys. "Die Stadt wurde zerstört und die Bewohner getötet. Nicht viel anders, als es Anzikhed ergangen war. Der Tod schafft mehr Orte der Macht als das Leben. Die einzigen Orte, die noch größere Energien auf sich ziehen können, sind die Tempel, in denen die Götter verehrt werden. Wenn es dir gelingt, ein Akolyth des Gottes zu werden, oder den Gott selbst zu verkörpern, kannst du aus den Seelen der Gläubigen eine ungeheure Kraft schöpfen..."

"Alvanere", erinnerte Saljin ihn.

"Also gut." Das Kaninchen sah zu Boden. "Wenn ihr es unbedingt hören wollt. - Wie gesagt, ich lebte einfach weiter. Die Tage zogen an mir vorbei wie zuvor, ich ging meiner Arbeit und meinen Geschäften nach, ich baute einen neuen Handel auf. Ich habe viele Handwerkskünste erlernt in den Jahrhunderten und kann jede Art von Arbeit verrichten, doch der Handel lag mir noch immer am meisten.

Aber eines war anders. Ich war einer Macht begegnet, die mich zutiefst mit Furcht erfüllte. Ich hatte etwas gefunden, das ich noch mehr fürchtete als den Tod. Dämonen. Wenn sie jemals zurückkehren sollten, so schwor ich mir, würde ich sofort fliehen, so schnell und so weit es möglich wäre, ganz egal, wen oder was ich zurücklassen würde. Ich würde alles tun, um ihnen nicht mehr begegnen zu müssen.

Wenn man ewige Tage nur so lebt, ohne ein wahres Ziel, das man mit seiner ganzen Seele verfolgen kann, so ist das schlimm genug. Aber die Furcht hatte sich zu mir gesellt wie ein unwillkommener Gast, und sie verschwand niemals ganz. Tausend Jahre lebte ich in verschiedenen Masken, unter verschiedenen Namen weitab von Khurudarns einstigem Reich, bis ich auch nur den Mut aufbrachte, dorthin zurückzukehren und mich umzusehen.

Ich war nicht sonderlich erstaunt, daß ich die Macht dieser Orte spüren konnte. Oromar selbst war ohne Bedeutung für mich, denn dort war ich nie gewesen, doch an der Stelle, wo Anzikhed den Erzengel gerufen hatte, konnte ich dessen Energie noch im Boden spüren, und dort, wo Khurudarns düsterer Palast gestanden hatte, war selbst für mich - den Nicht-Magier - ein Ort der Macht entstanden, dessen Gewalten ich hätte nutzen können.

Aber nichts sonst zeugte noch von Khurudarns Herrschaft. Sein Reich war ebenso vergangen wie Syrradrea. Das Böse wie das Gute mußte der Zeit weichen, die das Gesicht der Welt immer neu gestaltet. Die Zeit frißt ihre Kinder, und wir, die wir außerhalb der Zeit stehen, können nur zusehen.

Ich wanderte um die Welt, lernte Sprachen, die noch kein Felliger je gehört hatte, sah Völker, die nicht einmal in den ältesten Büchern verzeichnet waren, und reiste durch Landschaften, die den Träumen selbst entsprungen schienen. Tausend Jahre, und abermals tausend Jahre, ohne zu altern, ohne die Hand des Todes zu spüren, doch immer begleitet von der Furcht, und allein in dunklen Nächten, selbst in jenen Jahren, da ich mit einer Familie zusammen ein Leben in Frieden lebte. Denn alle, alle sind gestorben, die mit mir ein Stück des Weges teilten: meine Frauen, meine Kinder, meine Enkel, meine Freunde, meine Feinde. Niemand versteht die wahre Natur der Zeit, außer jenen, die nicht wirklich in ihr leben, und ich sah, daß die Zeit ein hungriger Gesell ist.

So lernte ich die Gesellschaft von Büchern schätzen, die mir die Geschichten aus längst vergangenen Tagen erhielten und bewahrten. Sie brachten mir Wissen und Weisheit und Reichtum. Vielleicht schätzte ich die Bücher schließlich mehr als das Leben, das sie repräsentierten; das sagten mir manche. Ich wurde ein Lehrer, wenn ich nicht gerade Handel trieb, ein fahrender Gelehrter, der seine Erkenntnisse gegen geringes Entgelt weitergab, und viele Male nannte man mich einen Sonderling.

Als das Schicksal mich in die Heimatländer verschlug, wo einst Syrradrea gestanden hatte, gestattete ich mir einen Hauch der Freude, denn in diesen Tagen waren die Heimatländer Syrradrea sehr ähnlich. Aber meine Tage des Wanderns waren noch lange nicht vorbei. Von Neugierde getrieben, folgte ich den Spuren einer Gruppe von Auswanderern, die in einer kleinen Flotte das Meer überquert hatten. Ich gelangte in den Armygan.

Eine Zeit verbrachte ich als Berater am Hofe des Drunfürsten, doch das ist eine Stellung mit Risiko, denn man ist bekannt und kann nicht so leicht von einer Rolle in die nächste, einem Leben ins andere schlüpfen. So erkundete ich stattdessen das Hinterland. Alvanere war damals eine große, blühende Stadt, und ich ließ mich schließlich nieder, vor mehr als vierhundert Jahren. Ich hatte eine Frau, und zwei Töchter, und einen kleinen Laden in der Nähe des Stadtrandes. Meine Bücher waren wohlversteckt - Tausende von ihnen, die die Zeit überlebt hatten und die ich außerhalb der Stadt in einem Lagerhaus aufbewahrte. Es waren zu viele Bücher über Magie darin, die meine Familie verstört hätten - also verschwieg ich, daß ich sie besaß. Wie ich so vieles verschwieg.

In diesen Tagen kämpfte der Drunfürst gegen eine wahre Plage: die Pharrak. Die Echsenwesen, die im Osten des Armygan hausen, fielen immer wieder über die Felligen her, plünderten entlegene Dörfer, brandschatzten Städte. Wenn es heute heißt, daß der Armygan seit tausend Jahren keinen Krieg mehr gesehen hat, so mag das stimmen - aber nur, wenn man als Krieg nur den Kampf von Felligen gegen Fellige bezeichnet. Die Raubzüge der Pharrak waren nicht viel besser als Krieg, und sie trafen zumeist die Armen und Schwachen.

Dieser Sommer war heiß und trocken gewesen, und die Ernte der Pharrak schien zur Gänze verdorrt. Jedenfalls fielen sie wie die Heuschrecken über den Armygan her, ja, sie folgten mit ihren Schiffen sogar den Flüssen, um ins Landinnere zu gelangen. Sie hatten Frauen und Kinder dabei, und so kam der Drunfürst zu der Überzeugung, daß sie nicht nur rauben wollten, sondern sich hier anzusiedeln gedachten. Das aber konnte er auf keinen Fall zulassen: einen Feind im eigenen Land zu haben, einen Feind, der so stark und kampftüchtig war wie die Pharrak, wäre eine Katastrophe gewesen. Also stellte der Drunfürst ein Heer zusammen.

Doch die Pharrak waren schneller. Sie erreichten Alvanere und berannten die Stadt. Anders als die Men'schin haben wir keine Mauern um unsere Städte - obwohl der Drunfürst nahe daran war, sie bauen zu lassen. So kam der Fall der Stadt schnell.

Ich war zu der Zeit nicht in Alvanere, sondern hatte mein geheimes Lager aufgesucht. Als ich zurückkehrte, sah ich den Kampf. Nun besaß ich mehr als nur Bücher in meinem Versteck. Ich hatte viele magische Hilfsmittel, darunter auch recht mächtige Waffen. Ich hatte die Wahl, diese Waffen zu nehmen und den Pharrak entgegenzutreten, oder im Verborgenen zu bleiben und dem Fall der Stadt tatenlos zuzusehen.

Aber die Waffen zu benutzen, hätte mich in den Ruf eines Magiers gebracht, womöglich meine Geheimnisse offenbart. Ich wußte nicht, was mehr zu fürchten war: die Niederlage, und damit der Tod von der Hand der Pharrak, oder der Sieg, und damit das Ende meines geheimen Lebens. Ich liebte meine Geheimnisse damals sehr, und ebensosehr liebte ich meine Bücher. Also versiegelte ich das Versteck und hielt mich im Sumpf verborgen. Die Pharrak überrannten Alvanere und brannten es nieder. Sie töteten alle Bewohner, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie viele davon auch verzehrt hätten. Von meinem Platz in den Sümpfen aus konnte ich die Flammen sehen und die Schreie hören. Niemand überlebte, niemand entkam.

Doch das war nicht das Furchtbare. Vielmehr, als der Morgen heraufdämmerte, rückte der Drunfürst an, mit seiner ganzen Armee, und jetzt waren es die Schreie der Pharrak, die die Luft erfüllten. Die Magier des Fürsten machten sie alle nieder, und so starben in den Ruinen von Alvanere nicht nur die Bewohner, sondern auch ihre Mörder.

Hätte ich meine magischen Waffen benutzt, so hätte es vielleicht einen Unterschied gemacht. Mit diesen Werkzeugen hätten die Verteidiger der Stadt bis zum Morgen ausharren können, und die Stadt hätte überlebt. Ich hatte es nicht ahnen können, daß der Drunfürst kam, aber für mich spielte das keine Rolle. In gewisser Weise war ich für den Untergang Alvaneres verantwortlich. Ich wanderte durch die Asche der zerstörten Stadt, die Asche der Toten, und spürte, wie die Energie aus der Tiefe zu mir sprach. Alvanere war ein Ort der Macht für mich geworden, vielleicht mächtiger als jeder andere. Und was ich mehr als alles andere fürchtete, war, daß ich meine Frau und meine Töchter in der Asche spüren konnte. Ich floh von diesem Ort, floh aus dem Armygan nach Westen, und gelangte ins Land der Fuchstauren, wo ich einige Jahrzehnte lebte, ehe ich mich wieder in den Armygan wagte."

"Was geschah mit den Pharrak?" wollte Saljin wissen. "Es können doch nicht alle bei Alvanere umgekommen sein!"

"Der Drunfürst ließ sie verfolgen", antwortete Khiray dumpf. Der Gedanke an Pallys' Schicksal bedrückte ihn. Es gab Dinge, die er nicht unbedingt hätte zu wissen brauchen. "Keiner der Pharrak, die in den Armygan gekommen waren, überlebte, so wurde behauptet. Dann rüstete der Drunfürst eine Flotte aus und fuhr gen Osten. Er ließ die Städte der Pharrak niederbrennen, die Dörfer verwüsten, die Felder mit Salz unbrauchbar machen. Er tötete eigenhändig tausend Pharrak, bis die letzten Überlebenden in die Bergdörfer flohen und nie wieder in das flache Land herabkamen. Es gab nie wieder einen Überfall der Pharrak. Einige sagen, es gäbe Pharrak in den Sümpfen, vielleicht solche, die dem Zorn des Drunfürsten entkommen waren, oder solche, die auf dem Landweg in den Armygan eingedrungen sind. Aber wenn es sie gibt, so sind sie selten, und sie müssen ein primitives Leben führen, immer auf der Hut vor den Felligen."

Saljin nickte nur.

Pallys erhob sich. "Mehr gibt es nicht zu berichten. Ihr kennt nun die ganze Wahrheit. Ich hoffe, ihr seid zufrieden."

"Ja", murmelte Khiray. Zufrieden war nicht das richtige Wort für das, was er fühlte. Aber obwohl das Kaninchen ihm leid tat, wußte er doch, daß er das Richtige getan hatte. Nur die Wahrheit konnte ihm bei seiner Entscheidung helfen. "Wir werden nach Alvanere fahren", verkündete er. "Wenn du dort einen Erzengel rufen kannst, der Beladanar besiegt, ist dem Armygan mehr geholfen, als wenn wir den Drunfürsten zuerst benachrichtigen. Um Galbren kümmern wir uns später."

Pallys verbeugte sich. "So sei es. Bitte entschuldigt mich, ich werde mich auf die Magie vorbereiten. Stört mich nicht, ehe wir in Alvanere sind." Mit schleppenden Schritten verließ er den Speisesaal und schlurfte in Richtung seiner Kabine davon.

Khiray und Saljin traten aus dem Raum und wandten sich zum Bug. Das Deck über ihnen schützte sie etwas vor dem Regen, der noch immer heftig und ununterbrochen herabströmte. Vom Rest der Besatzung war nichts zu sehen. Khiray öffnete die Tür der Kombüse. "Pakkaht?"

Der Hirsch sah von einer Pfanne mit undefinierbarem Inhalt auf. "Ja? Das Essen ist noch nicht ganz fertig."

Saljin schnupperte, aber die Ergebnisse von Pakkahts Bemühungen rochen nicht so appetitlich, daß sie von plötzlichem Hunger überwältigt worden wäre.

"Ich wollte nicht über das Essen mit dir sprechen." Khiray verschränkte die Arme vor der Brust. "Du hast alles gehört."

"Ich?" Der Hirsch warf das Geweih zurück. "Was gehört?"

Der Fuchs seufzte. "Tu nicht so. Du hast dich nicht umsonst bereit erklärt, Essen zu machen. Du hast nie zuvor ein Wort davon erwähnt, daß du auch nur ein Ei braten kannst, und dem Gesetzlosenfraß da nach zu urteilen, bist du auch nicht allzu gut darin. Von der Küche aus kann man den Speisesaal sehr gut belauschen. Ich weiß es, ich habe es selbst oft genug getan. Ich habe überhaupt nur deshalb erwähnt, daß ich etwas zu essen haben möchte, um deine Reaktion zu sehen."

"Und, wie sah sie aus, meine Reaktion?"

"Wie ich es erwartet hatte. Du hast dich als Koch zur Verfügung gestellt, um bequem lauschen zu können."

Pakkaht winkte ab. "Was für ein Unsinn."

"Ich könnte dich gleich hier und jetzt über Bord werfen, aber wir brauchen dich zu nötig. Wir sind wenige genug, ich will keine zusätzlichen Kämpfer anheuern, die sich in Gefahr begeben, und du bist ein ausgezeichneter Krieger."

"Über Bord werfen wäre keine schlechte Idee. Wenn ihr gegen diese Dämonen kämpft, werde ich sowieso nicht an Bord sein."

Khiray merkte, daß Pakkaht sich keineswegs verplappert hatte, sondern bewußt die Maske fallen ließ. "Ich glaube nicht, daß es eine gute Idee wäre, uns jetzt im Stich zu lassen. Wir brauchen jede Hand. Und selbst wenn ich entlang des Flusses Leute anwerben wollte, die keine Ahnung von den Gefahren haben, so würde ich doch keinen Kämpfer finden - höchstens Fischer und Bauern."

"Ich verschwinde bei der ersten Gelegenheit, glaube mir." Der Hirsch rührte wütend in der Pfanne herum. "Als ich an Bord kam, dachte ich, es wäre eine gute Idee gewesen, um aus Sookandil fortzukommen. Im Otterdorf hatte ich schon kein so gutes Gefühl mehr. Und jetzt fühle ich mich wie auf einem Schiff voller Verrückter, die ihr Leben in einem sinnlosen Kampf wegwerfen wollen. Ich gehe von Bord, und dabei bleibt es. Ihr könnt mich nicht einsperren oder die ganze Zeit über bewachen."

"Das wird nicht nötig sein", sagte Khiray sanft. "Du wirst freiwillig bei uns bleiben und uns zur Seite stehen. Es wäre sicherlich nicht besonders angenehm, wenn jeder hier in der Gegend wüßte, daß ein gefährlicher Gesetzloser frei herumläuft. Noch dazu, wenn dieser Gesetzlose eigentlich schon in Sookandil gehängt worden ist. Nicht wahr, Perlish?"

Der Hirsch warf die Pfanne zornig auf den Herd, so daß der Inhalt überschwappte und zischend auf der metallenen Fläche verschmorte. "Wenn du so schlau bist, Füchschen, dann solltest du auch wissen, daß ich euch allen die Kehlen durchschneiden kann, während ihr schlaft."

"Vielleicht, vielleicht auch nicht. So leicht schneiden sich Kehlen nicht. Und du bist kein Mörder, Perlish. Du bist ein Räuber, und ein Söldner. Im Kampf zu töten ist etwas anderes, als Leute heimtückisch zu ermorden. Vielleicht würdest du es tun. Aber du müßtest uns alle erwischen, auch Delley und Saljin, und zumindest mit ihnen wirst du kein leichtes Spiel haben. Und ich und Sarmeen und Kinnih und Fryyk... Nein, ich glaube nicht, daß du es riskieren wirst. Ich habe nicht vor, zu sterben, und das weißt du. Wenn wir in Drun'kaal sind, kannst du gehen. Niemand wird etwas aus meinem Mund erfahren. Sei unser Verbündeter wie bisher. Sei einfach Pakkaht."

"Verdammnis! Wieso hast du es gewußt? Perlish ist gehängt worden!"

Khiray schüttelte den Kopf. "Zu viele Geheimnisse. Ein Hirsch, der als Geselle der Kesselflicker arbeitet? Der plötzlich und unerwartet Sookandil verlassen muß? Der in Wahrheit das Schwert wie ein Meister schwingt und mehr über Kampf und Tod weiß, als ein Kesselflicker eigentlich wissen sollte? Wärest du ein Krieger, der sich aus irgendeinem Grund verstecken muß, hättest du dich in Galbrens Armee anheuern lassen. Anfangs vermutete ich, du wüßtest von den Dämonen. Aber du hattest einen anderen Grund zur Flucht. Galbren macht Jagd auf Gesetzlose. Deshalb hast du die Stadt verlassen, statt dich seiner Armee anzuschließen."

"Er hätte mich genommen", grollte Perlish. "Es wäre ihm ganz egal gewesen, wenn er es gewußt hätte. Aber das konnte ich nicht ahnen!"

Khiray lächelte. "Ich hielt Perlish für tot. Aber Galbren hätte jede Gelegenheit wahrgenommen, um sein Ansehen zu verbessern. Also konnte es sein, daß Perlish selbst entkommen war - und daß nur sein unglücklicher, vorgeschobener Stellvertreter am Galgen baumelte. Oder vielleicht gehörte in Wahrheit keiner der Gehängten zu seiner Bande, und Galbrens Opfer waren nur Landstreicher, die ihm in die Quere kamen. Und dann erinnerte ich mich an das Gerücht, daß Perlish ein Hirsch sei - keiner der Gehängten war einer... Danach wurde mir alles klar."

Der Gesetzlose furchte die Stirn, dann lachte er laut auf. "Khiray, du bist ein Schurke, wie ich einer bin! Also gut, ich bin dabei. Es geht mir gegen den Strich, womöglich mein Leben für eine gerechte Sache zu lassen - aber wir haben ja Dämonenwaffen, nicht wahr? Dein Wort gegen meines. Perlish ist tot, und niemand wird etwas anderes erfahren."

Der Fuchs nickte. "Niemand außerhalb dieses Schiffes. Ich will keine Geheimnisse mehr auf der 'Silbernen Ansicc'. Keine Geheimnisse."

Der Hirsch fluchte. "So sei es. Aber meine Lebensgeschichte erfährt niemand."

Khiray nickte bedächtig. "Ich glaube, ich will sie gar nicht hören." Er schloß die Kombüsentür hinter sich.

* * *

"Du hast es die ganze Zeit über gewußt?" wollte Saljin wissen, als sie nebeneinander an der vorderen Reling standen und über den Fluß blickten.

"Geahnt", gab Khiray zu. "Ich mußte es aus seinem Mund hören."

"Er ist ein Verbrecher."

"Sicher", stimmte der Fuchs ihr zu. "Aber wir brauchen ihn. Er hat die Dämonen bereits gesehen, er wird nicht schreiend davonlaufen, wenn wir gegen sie kämpfen sollten. Ich kann niemanden anheuern, wirklich nicht - niemanden, dem ich in solch einem Kampf meinen Rücken anvertrauen würde. Es wäre mir wohler, wenn ich eine Hundertschaft von Kriegern wie ihn hätte, aber das ist unmöglich. Er ist ein Verbrecher, aber er ist auch unser Verbündeter in diesem Kampf."

"Der letzte Kampf", sinnierte Saljin. "Siegen oder untergehen."

"Durchhalten oder untergehen", korrigierte Khiray. "Oder vielleicht beides. Alles hängt von Pallys ab."

"Glaubst du, daß er es schaffen wird?"

Der Fuchs nickte. Der Regen floß über sein Fell wie Tränen. "Er wird. Ich würde nicht nach Alvanere fahren, wenn ich nicht daran glauben würde."

"Du tust es für ihn, oder? Nicht so sehr für die Städte, die zerstört werden könnten. Weil er Alvanere im Stich gelassen hat. Du tust es, damit er es wiedergutmachen kann."

"Hm", brummte Khiray. "Kann sein. Vielleicht will ich auch nur zusehen, wie der Erzengel die Dämonen im Himmelsfeuer auf kleiner Flamme röstet. Und anschließend nehmen wir uns Galbren vor, bis er um Gnade winselt."

Saljin lachte hell. "Wenn wir ihn haben, dann..."

Eine plötzliche Erinnerung durchzuckte Khiray. Feuer... dämonisches Feuer... Er spürte Hitze auf seiner Haut, Schmerz, hörte Stimmen. Das Schiff verschwand vor seinen Augen. Die Hölle. Die Hölle. Irgendwo kreischten Dämonen, und da war dieser Laut wie von verschmorendem Fleisch. Sein Fell stand zu Berge. Ketten, ja, schwere Ketten aus Eisen um seine Arme, die ihn aufrecht hielten...

Dann war es vorbei. Das Schiff kehrte zurück, und die unwillkommene Erinnerung verblaßte zu etwas, was schon vor langer Zeit geschehen war und ihn eigentlich nicht mehr zu kümmern brauchte. Er fand sich in den Armen einer erschrockenen Saljin wieder. "Was ist? Was ist mit dir passiert?"

Seine Muskeln schmerzten, als hätte er gegen sich selbst gekämpft. "Nichts", murmelte er. "Der Preis war zu zahlen..."

"Oh, Khiray!" Saljin schüttelte verzweifelt den Kopf.

"Es ist gut... es ist alles gut. Der Troll war es, denke ich - der Troll hat mehr getan, als nur meinen Körper zu heilen. Er hat auch etwas mit meiner Erinnerung getan. Damit ich nicht für alle Zeit Khezzarriks Gefangener bleibe, obwohl er nicht mehr in dieser Welt ist. Aber es ist nicht perfekt. Manchmal kann ich ihn noch sehen... und mich..."

"Wenn das hier vorbei ist, werden wir die Trolle aufsuchen", versprach die Fuchstaurin. "Ich werde sie dazu überreden, dich voll und ganz zu heilen."

"Ich glaube nicht, daß das möglich ist", stellte Khiray fest und straffte seinen Körper. "Es ist ein Teil von mir. Es wird immer da sein, und daran können auch die Trolle nichts ändern. Ich war in der Hölle - und ein Teil von mir ist dort geblieben, wird immer dort sein." Er blickte zu Boden. "Ich hatte die Wahl."

Saljin leckte seine Wange. "Nein, die hattest du nicht."

Vorsichtig legte er seine Arme um sie. "Vielleicht hast du recht. Müssen wir hier im Regen stehen?"

Sie lächelte. "Hättest du es lieber etwas wärmer? Gemütlicher?"

"In wessen Tradition?"

"Wir würden das Essen verpassen."

"Essen? Dieses Essen?" Er schüttelte den Kopf. Wassertropfen flogen durch die Luft. Der Regen hatte nachgelassen, und der Horizont schien viel weniger dunkel als noch Minuten zuvor. "Ich glaube, das Essen zu verpassen ist eine Wohltat, kein Risiko."

"Niemandes Tradition", flüsterte sie ihm ins Ohr. "Alles ist erlaubt."


Ende von Kapitel Einundzwanzig