Kapitel Siebenundzwanzig


Galbren. Er hatte überlebt. Die Explosion hatte ihn nicht getötet. Er trug dieselbe Kleidung wie auf dem Pier: eine langärmelige Weste, eine Hose, eine ärmellose Jacke, kostbare Schuhe. Den Bogen allerdings hatte er zurückgelassen.

Er war nicht einmal naß geworden.

Verdammnis. Dieser Wolf hatte vier Leben! Er konnte sich mit Dämonen verbünden, er konnte Verrat begehen, er konnte eine Armee um sich sammeln, um den Drunfürsten zu stürzen - und nichts konnte ihm etwas anhaben.

Aber die Wahrheitsfinderin...

Khiray ahnte, daß Vijapaai in dem, was Galbren sagte - was immer es sein mochte - die reine Wahrheit sehen würde. Sie war mit ihm im Bunde. Galbren hatte sie bestochen. "Ich verlange, daß andere Wahrheitsfinder anwesend sind!"

Die Katze warf ihm einen bösen Blick zu. "Ich spreche stets die Wahrheit!"

Doch Dhaurakil nickte. "So sei es. Ich möchte diese Angelegenheit gerne so schnell wie möglich vollständig klären. Ich liebe keine Geheimnisse bei Hofe."

Es sei denn, es sind deine eigenen, dachte Khiray bitter. Aber nein, Dhaurakil war nichts vorzuwerfen. Der Erzmagier hatte sich ihm gegenüber korrekt verhalten. Galbren und Vijapaai, diese zwei waren in das Komplott verstrickt.

Kooradah begrüßte Galbren. "Ich hoffe, daß die Erzählung über Euren Verrat ebenso übertrieben ist wie über Euren Tod."

"Gewiß", erwiderte Galbren. "Nichts liegt mir ferner, als Euch zu verraten."

"Wahrheit", murmelte die Katze automatisch, wie Khiray bereits vermutet hatte.

Drei weitere Wahrheitsfinder - ein Dachs, ein Kaninchen und eine Füchsin - trafen nach wenigen Minuten ein. Sie bildeten einen größeren Kreis. Unbehaglich stellte Khiray fest, daß die betrunkenen Orgiengäste sich neugierig, aber schweigend, um Kooradahs Gruppe versammelt hatten.

Galbren streckte sich genußvoll. "Es ist ein wahres Glück, daß ich noch am Leben bin. Als die Verräter sich im Maschinenraum des Schiffes verschanzt hatten, ahnte ich, daß sie etwas planten. Als sie mir nicht mehr antworteten, schöpfte ich Verdacht und kehrte auf den Kai zurück. Gerade noch rechtzeitig. Die Explosion wirbelte mich herum, doch die Trümmer verfehlten mich fast alle." Er entblößte seinen rechten Arm und zeigte einen Verband vor. "Hier hat mich ein Brett verwundet. Aber es ist nicht weiter schlimm."

Khiray starrte den Gouverneur haßerfüllt an.

"Ich ahnte, daß dieser Verräter sich zum Palast begeben würde, um sich herauszureden." Der Wolf lächelte Khiray an. "Es liegt nicht im Interesse seiner Auftraggeber, daß ihre Pläne vorzeitig bekannt werden. Glücklicherweise habe ich dieses letzte Attentat überlebt. Kleiner Fuchs, hier finden deine Intrigen ihr endgültiges Ende. Kooradah wird die Hintermänner der Verschwörung aus deinem Munde erfahren, und die Gefahr kann gebannt werden. Glaube nicht, daß du dem ehrenwerten Fürsten etwas verschweigen kannst. Die Wahrheitsfinder sind unbestechlich, und wenn nötig, wird Kooradah sicher auch nicht vor schmerzhaften Methoden der Befragung zurückschrecken."

Der Leopard schüttelte den Kopf. "Das gefällt mir nicht. Folter ist keine ehrenwerte Methode."

"Im Angesicht dieser Gefahr..." Galbren seufzte. "Nun, wenn er freiwillig redet, wird all das nicht nötig sein."

Khiray fühlte sich, als läge er bereits auf der Folterbank. Die einzige Verschwörung war Galbrens! Er konnte keine Hintermänner preisgeben, weil es keine gab. Doch wenn jedes seiner Worte als Lüge bezeichnet wurde... wenn der Drunfürst vermutete, daß er wirklich etwas verbarg... Er hatte seine Waffe in gutem Glauben dem Erzmagier gegeben. Warum sagten die anderen Wahrheitsfinder nichts? Galbren konnte sie nicht alle bestochen haben!

"Es gibt also eine Verschwörung", versuchte Dhaurakil das Gespräch wieder auf das Thema zurückzulenken.

"Ja."

"Wahrheit", bestätigten alle vier Wahrheitsfinder. So weit, so gut.

Galbren machte es sich bequem. "Es ist eine lange Geschichte. Sie beginnt mit einem seltsamen Traum, in dem mich ein Erzengel besuchte."

"Wahrheit."

Was? Khiray schwindelte. Er war wie betäubt. Die anderen Wahrheitsfinder gehörten auch zu Galbren? Das konnte nicht sein! Hier waren andere Kräfte am Werk!

"Der Erzengel sagte mir, daß ein mächtiger Feind aus dem Norden versuchte, unser Land an sich zu reißen. Ich vermutete, das Imperium Dharwil, das uns so lange wohlgesonnen schien, steckte dahinter... doch mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher. Vielleicht gibt es andere Länder im Norden, die ich nicht kenne... Ich überlasse es Euch, den wahren Feind zu bestimmen. - Ich wurde angewiesen, mich zu rüsten und ein Heer aufzustellen, das sich dem Feind entgegenstellt. Ihr, Drunfürst, solltet gleichfalls informiert werden, doch der Erzengel behauptete, daß eine Gruppe von Verrätern, Spionen und Feinden dieses Landes sich in Sookandil treffen würde, und es sei meine erste Pflicht, diese ausfindig zu machen und zu vernichten. Wenig ahnte ich damals vom wahren Ausmaß der Verschwörung."

"Wahrheit", nickten die Magier.

"Ich begann meine Vorbereitungen und warb Fellige für mein Heer an. Alle ohne Arbeit, alle Herumtreiber erhielten eine nützliche Aufgabe. Dabei hielt ich stets die Augen offen, um die Spione rechtzeitig zu entdecken. Dann kamen Fremde in die Stadt. Heimlich ließ ich sie überwachen, und bald entdeckte ich das Komplott. Die Fremden, Fuchstauren aus dem Westen, töteten einen angesehenen Bürger Sookandils, den Händler Saswin. Es gelang ihnen sogar, Khiray - diesen Fuchs hier - durch ihre Lügen auf ihre Seite zu ziehen. Jeder aufrechte Bürger Sookandils kann diese traurige Geschichte bestätigen." Er berichtete von dem Mord und den Ereignissen danach bis hin zur Verhandlung. Natürlich hielt er sich an beweisbare Fakten, doch die Art und Weise, wie er seine Geschichte präsentierte, ließ keinen Zweifel daran, wie Schuld und Unschuld verteilt waren.

"Wahrheit."

Dhaurakil winkte ab. "Unterbrecht Galbren bitte nicht mehr, nur noch, wenn er die Unwahrheit sagt."

Nein. Es konnte nicht sein. Galbren nahm Zuflucht zu seiner ursprünglichen Lüge, mit der er die Fuchstauren als gefährliche Feinde hinstellte. Es war nicht die Wahrheit; Khiray wußte es besser...

...oder doch nicht?

Was, wenn irgend ein Einfluß seine Gedanken verschleiert hatte? Wenn er alles, was ihm widerfahren war, wie durch ein verzerrendes Glas sah? Was, wenn Galbren von Anfang an recht gehabt hatte, und die Fuchstauren waren wirklich der Feind, und er war Saljins Magie und ihren Verführungskünsten zum Opfer gefallen?

Was, wenn er wahrhaftig Teil einer Verschwörung war - und Galbren nicht der Feind, sondern der aufrechte Retter?

Nein! Er mußte seinem Wissen vertrauen. Wenn er seinen eigenen Augen, seinen Ohren, seinem Herzen nicht mehr trauen konnte, war alles verloren. Dann würde er sich aus dem Labyrinth der Lügen nicht mehr befreien können.

Galbren nickte dem Erzmagier dankbar zu. "Es gelang uns, die Fuchstauren zu überwältigen, als sie den Mörder befreien wollten. Zwei von ihnen wurden festgesetzt. Doch ich erlebte eine böse Überraschung. Mein Bruder Sarmeen, der angeblich bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war, hatte sich im Verborgenen gehalten - er ist in Wahrheit einer der Köpfe der Verschwörung, ein Verräter am eigenen Land, an der eigenen Stadt. Zusammen mit Khiray drang er in die geheimen Kerker ein, die nur er und ich kannten, und befreite die Gefangenen. Einen davon konnten wir auf der Flucht töten. Danach machten sie sich zusammen mit den anderen Spionen, die aus ihren Löchern krochen - in der Gewißheit, nun entdeckt zu werden -, an die Flucht. Doch eines stahlen sie mir dabei." Er wies auf das Dekka'shin. "In der Nacht nach meinem Traum fand ich diese Waffe neben meinem Bett. Der Erzengel hatte sie mir gegeben, so daß ich imstande sei, die Invasion abzuwehren. Mit meinen getreuesten Soldaten nahm ich die Verfolgung auf, denn ein solches Instrument darf nicht in der Hand der Verräter bleiben."

"Moment", unterbrach ihn der Erzmagier. "Wie kommt es, daß die Waffe auf Khiray abgestimmt ist?"

Der Gouverneur sah zu Boden. Es war, als müsse er nachdenken - seine Lüge weiter ausbauen. "Ich weiß es nicht", gestand er schließlich. "Ein Magier, der bei mir war, behauptete, daß die Flüchtigen sich in den verwunschenen Ruinen von Alvanere aufhielten. Als wir dort ankamen, wurden wir Zeuge unbeschreiblicher Magie, bei der viele meiner Felligen ums Leben kamen, unter ihnen ein Men'schin, mein Berater Alfon Sanass. Ich kann es mir nur so erklären, daß sie dem Ort eine Macht abgerungen haben, um diese Waffe auf diesen Fuchs abzustimmen. Ich bin kein Magier, ich kann es nicht erklären."

"Was ist aus Eurem Magier geworden?"

"Er starb in Alvanere, wie Alfon Sanass. Wir verfolgten die Verräter bis hierher, in der Gewißheit, daß sie die neuerworbene Macht der Waffe gegen den Drunfürsten einsetzen wollten. Als wir sie stellten, kam es zum Kampf, und die Verräter sprengten ihr Schiff, um mich zu töten. Es gelang mir aber, meinen verräterischen Bruder zu überwinden. Ein paar der Verräter halten sich noch in der Stadt auf; Ihr solltet sie festnehmen lassen."

Für eine Weile herrschte Schweigen, unterbrochen nur von Rülpsern aus den Reihen der Betrunkenen.

"Es ist nicht wahr", brachte Khiray schließlich heraus.

"Aber es macht Sinn", entgegnete Kooradah. "Es macht genausoviel Sinn wie Eure Geschichte. Vielleicht noch mehr, denn sie kommt ohne Dämonen aus. Und ich muß gestehen, daß mir eine Version, in der einer meiner Gouverneure ein Verräter ist, nicht allzugut gefällt."

"Galbrens Geschichte ist wahr", bestätigte Vijapaai.

Der Fuchs sprang auf. "Was ist mit dem Dorf der Otter? Was ist in Bärenberg geschehen? Fragt ihn das!"

Galbren blieb ruhig. "Ich weiß nicht, was mit einem Dorf der Otter sein soll. Wir stellten Euch in Alvanere. Was Ihr bis dahin getan habt, entzieht sich meiner Kenntnis."

"Und es gibt eine Lücke in der Geschichte Khirays", betonte die Katze. Entsetzt erkannte Khiray, daß er sich einen Feind geschaffen hatte, als er die Wahrheitsfinderin praktisch der Lüge bezichtigte. Ob sie auf Galbrens Seite war oder einem anderen Einfluß unterlag, war nun gleichgültig: sie versuchte, Khiray zu schaden. "Weshalb glaubte der Fuchs nicht daran, daß die Fuchstauren schuld am Tode seines Vaters seien, obwohl alle Beweise gegen sie sprachen? Warum setzte er seinen Ruf aufs Spiel, um einen Mörder zu verteidigen?"

"Saljin...", stöhnte Khiray. "Ich... ich wußte es einfach..."

Vijapaai starrte ihm in die Augen.

Khiray vergrub das Gesicht in den Händen. "Ich liebe sie."

"Aha!" Galbren triumphierte. "Daher also ließ sich Khiray so schnell für die Sache der Verräter gewinnen, trotz des Todes seines Vaters. Nun, ich denke, Ihr solltet Milde walten lassen. Schon große Helden haben sich durch plötzliche Verliebtheit blenden lassen und sind gestürzt. Wie könnte man von einem kleinen, jungen Fuchs etwas anderes erwarten?"

Kooradah nickte. "Ich denke, Ihr habt recht." Er gab den Wachen ein Zeichen.

"Wartet!" rief Khiray. "Fragt ihn... weshalb die Waffe auf mich eingestimmt wurde, wenn ich doch erst angeworben worden sein soll! Warum nicht auf einen der Verräter, warum nicht auf Sarmeen?"

Galbrens Schnauze kräuselte sich im Ausdruck tiefster Verwunderung. "Wer bin ich, daß ich die Gedanken von Verrätern und die Geheimnisse der Magie kennen sollte? Es ist wahr, hier haben wir ein Rätsel. Meinem Bruder hätte es leicht fallen sollen, die Waffe zu beherrschen, wo sie doch zuerst auf mich eingestimmt war. Wir sind beide Wölfe vom selben Blut. Aber diese Einstimmung reagiert vielleicht eher auf den Geist als auf den Körper, und ich und mein verblichener Bruder könnten verschiedener nicht sein. Ja, es mag gerade die Unschuld dieses Fuchses sein, die es überhaupt erst ermöglicht hat, die Waffe auf ihn einzustimmen! - Nebenbei, ich habe noch ein größeres Rätsel: Was ist mit den Dämonen, die Ihr erwähntet? Was für Dämonen? Wo sind sie?"

Khiray schrie auf. Er selbst hatte dazu beigetragen, daß die Dämonen aus dieser Welt verbannt wurden - und nun kehrte Galbren seinen Sieg gegen ihn. Er hätte sich auf den Wolf gestürzt, mit bloßen Händen, um den Mörder seines Vaters, den Mörder der Fuchstauren, den wirklichen Verräter, zu erwürgen. Aber die Wachen waren inzwischen herangekommen und hielten seine Arme fest. Er konnte nur noch hilflos zappeln.

"Was für ein trauriger Anblick", seufzte Galbren. "Ein aufrechter Bürger, gefangen in einem Netz der Lügen."

"Deine Lügen, Galbren - deine Lügen!" schrie Khiray außer sich. "Warum habe ich das Dekka'shin nicht gegen Kooradah eingesetzt? Warum habe ich Drun'kaal nicht von der Landkarte getilgt? Wenn ich ein Verräter bin, warum handle ich nicht danach?"

Der Wolf drapierte seinen Schwanz über die Knie. "Die Aufmerksamkeit des Erzengels wecken, indem du sein Geschenk an mich benutzt? Nein, das wäre sicher keine gute Idee. Ihr wolltet diese Waffe für Notfälle behalten, nehme ich an. Und um deine Lügengeschichte zu untermauern. Nebenbei", er wandte sich an Vijapaai, "ich würde gerne wissen, was er eigentlich erzählt hat."

Die Katze begann zu berichten. Die Wahrheit. Khirays Geschichte. Der Fuchs sank in den Armen seiner Bewacher zusammen. Die Macht des Erzengels konnte ihm vielleicht helfen - aber das Dekka'shin war in Dhaurakils Händen, und der Erzmagier würde es ihm sicherlich nicht zurückgeben.

Er war verloren. Er hatte das Vertrauen Kooradahs und Dhaurakils verspielt, die beide eher ihren eigenen Wahrheitsfindern glaubten als ihm. Natürlich; er war ein Fremder. Kooradah kannte Galbren; nach dem angeblichen Tode Sarmeens hatte der Drunfürst ihn selbst als Gouverneur bestätigt. Dhaurakil kannte seine Wahrheitsfinder, arbeitete mit ihnen, vertraute auf die Richtigkeit ihrer Aussagen. Nur er, der kleine Händler, hatte niemanden bei Hofe.

Schlimmer noch. Nicht nur er, sondern auch seine Freunde fielen den Lügen zum Opfer. Auch sie wurden als Spione und Verräter gebrandmarkt. Delley, Kinnih, Fryyk... und Saljin. Ja, selbst die Fuchstauren vom Goldenen Ufer, die noch vor wenigen Stunden von nichts gewußt hatten, wurden in die teuflische Intrige hineingezogen. Wenn Kooradah erst einmal die Wachen ausschickte, würde wohl allein Perlish ihnen entkommen - Perlish der Bandit, der sowieso allen Uniformierten mißtrauisch gegenüberstand.

Hätte er nur niemals den Palast betreten! Draußen ging die Sonne unter. Die Abendflut setzte ein; sie wartete auf niemanden, und die Fuchstauren würden fortsegeln, mit Saljin. Vielleicht war das ein Glück. Vielleicht war das einzige, was ihm noch übrigblieb, ein Spiel auf Zeit, um Saljin und die anderen Fuchstauren zu retten.

"Ich frage mich, ob es möglich ist, die Waffe wieder auf mich einzustimmen", sagte Galbren. "Oder auf einen anderen aufrechten Bürger; ich will nicht egoistisch sein, obgleich der Erzengel mir dieses Geschenk persönlich überreicht hat. Es bereitet mir jedenfalls Unbehagen, daß der einzige, der es benutzen kann, ein Verräter ist."

Khiray ließ den Kopf hängen. Er hätte mit den anderen zusammen auf das Schiff der Fuchstauren gehen sollen. Mit niemandem sprechen, heimlich fliehen - wie es Pallys vorgeschlagen hatte, damals auf dem Fluß. Er kam nicht gegen Galbren an. Die Lügen des Gouverneurs hatten das Spiel entschieden.

Sicher, irgendwann würde Kooradah Galbren durchschauen. Wenn Khiray unter der Folter starb, ohne etwas gesagt zu haben, das von den Wahrheitsfindern nicht als Lüge identifiziert würde... wenn sie Delley, Kinnih und Fryyk getötet hatten... wenn die Erzählungen der Otter die Runde machten...

Irgendwann.

Aber vielleicht beherrschte Galbren bis dahin die Macht des Erzengels. Oder er hatte Drun'kaal verlassen und widmete sich wieder dem Aufbau seiner Armee und dem Lügengebäude, das seinen Einfluß stärken sollte. Kooradah war kein Dummkopf, doch jemand, der Wahrheitsfinder manipulieren konnte, hielt alle Trümpfe in der Hand. Was befähigte ihn dazu? Hatte er wahrhaftig alle Wahrheitsfinder gekauft? Unmöglich!

Und doch war es so. Galbren log. Khiray sagte die Wahrheit. Keiner der Magier erkannte die Täuschung.

Mit dieser Macht konnte Galbren alles tun, was er wollte.

Khiray versuchte nachzudenken. Es mußte eine Lösung geben. Sie hatte ihm bereits auf der Zunge gelegen.

Das Spiel.

Das Spiel der Dämonen.

Es war noch nicht vorbei!

Es mußte Khezzarriks Einfluß sein. Ihm war verboten, ein Tor zu öffnen, doch vielleicht konnte er seine Macht auch so über die Sphären und Ebenen schicken und den Geist der Wahrheitsfinder verwirren.

Doch wie konnte er diesen Einfluß stoppen, ohne Taphaliels Macht zu Hilfe zu nehmen? Der Pakt band Khezzarrik an die Hölle, nicht aber seine Kräfte. Welches Interesse hatte Tor an Galbren? Was sollte Galbren erreichen, das so wichtig für Khezzarrik khi Valangassis war?

Vielleicht gar nichts. Vielleicht gab es ganz andere Gründe...

Diejenigen Zuschauer, die noch nüchtern waren, begannen im Chor zu sprechen: "Tötet den Fuchs! Tötet den Fuchs!"

Kooradah schüttelte den Kopf. "Bitte! Wir wollen keine vorschnellen Urteile fällen. Wir reden hier über Verrat, und es scheint mir wichtig, zuerst die ganze Wahrheit herauszufinden, ehe jemand hingerichtet wird."

Die Zuschauer tanzten. "Tötet den Fuchs! Tötet den Fuchs!"

Der Drunfürst sah sich mißbilligend um. "Bringt Khiray in den Kerker. Wir werden später über sein Schicksal entscheiden."

"Nein!" Khiray wehrte sich mit aller Kraft gegen die Wachen, die ihn mit sich zerrten. "Drunfürst! Ich habe die Wahrheit gesagt!"

"Hat er nicht", stellte Vijapaai fest.

"Ich bitte um eine Chance, meine Unschuld zu beweisen! Kooradah! Ihr macht einen Fehler!" Aber der Drunfürst sah ihn nicht mehr an.

Niemand konnte Galbren mehr aufhalten. Der Drunfürst zappelte bereits im Netz des intriganten Gouverneurs. Dhaurakil arbeitete praktisch schon für Galbren.

Die Orgien-Gäste griffen nach Khiray und wurden von den Wachen unsanft zurückgedrängt. Einige fielen zu Boden, begannen zu lachen, standen wieder auf. Der Fuchs wurde von den Bewaffneten einfach mitgeschleift.

Galbren erhob sich. "Ihr solltet nicht vergessen, die anderen Verräter festzusetzen", erinnerte er. Kooradah nickte und winkte einer weiteren Wache.

Nein! Er durfte die anderen nicht auch noch verhaften! Hoffentlich war die Flut hoch genug. Hoffentlich hatten Delley, Kinnih und Fryyk Verdacht geschöpft, nachdem er nicht zurückgekehrt war, und waren mit den Fuchstauren gesegelt.

Niemand konnte Galbren aufhalten, außer...

Außer demjenigen, der hinter dem Spiel stand und die Figuren über das Brett schob.

Er hatte befürchtet, daß es so weit kommen würde. Seine Nemesis. Sein Alptraum. Aber er sah keinen Ausweg mehr. "Khezzarrik!" rief Khiray. "Khezzarrik khi Valangassis, Fürst der Hölle! Ich weiß, daß du mich hören kannst! Ich ändere den Pakt! Hörst du?" Er trat nach den Wachen, die ihn hielten. "Ich erlaube dir, ein Tor hierher zu öffnen!"

Die Zuschauer und Wachen erstarrten einen Moment lang. In die benebelten Gemüter der Orgien-Gäste schien sich der Gedanke zu bohren, daß der Gefangene eben einen Dämonen gerufen hatte. Doch als nichts geschah, kehrten sie wieder zum lärmenden Toben zurück.

Kooradah schien sich damit abgefunden zu haben, daß seine Besucher sich nicht beherrschen konnten. "Es ist, als glaubte er selbst an seine Lügen", murmelte der Leopard.

Hinter ihm flimmerte die Luft.

Jemand kreischte. Dhaurakil wirbelte herum, aufgeschreckt durch den plötzlichen Einfluß mächtiger Magie. Die Zuschauer gingen in Deckung, versteckten sich hinter Tischen, gruben sich in Kissenberge. Die Bewaffneten zückten ihre Schwerter. Die beiden Wölfe, die Khiray hielten, schienen sich nicht sicher, was sie tun sollten. Schließlich ließen sie ihren Gefangenen los und eilten zu Kooradah, um ihren Fürsten zu beschützen.

Der Drunfürst rief nach Verstärkung. Das Flimmern wurde zu einem Wirbeln, feurige Arme brachen aus dem entstehenden Tor. Dann riß der Raum auf, und die sprachlosen Felligen starrten in den gluterfüllten Abgrund der Hölle.

Khezzarrik trat hindurch, verbeugte sich und lächelte. Er trug diesmal eine Gestalt, die Kooradah ähnlich sah, doch die Flecken fehlten in seinem Fell, der Schwanz hatte eine dunkle Quaste, und eine gewaltige Mähne zierte Kopf und Schultern des Dämonen. Kooradahs Züge spiegelten sich in dem massigen Gesicht, doch Khezzarrik war nochmals zwei Köpfe größer als der Fürst.

Hinter ihm schloß sich das Tor wieder.

"Nun?" bemerkte der Dämon. "Ich sehe zwei vertraute Gesichter, oder? Möchte mich niemand begrüßen?"

Khiray trat vor. "Ich grüße dich, Khezzarrik khi Valangassis, Herr der Dämonen."

"Was hat das zu bedeuten?" brüllte Galbren. "Wir haben eine Abmachung!"

Indigniert rümpfte Khezzarrik die Schnauze. "An die ich mich in jeder Hinsicht gehalten habe." Er machte eine Handbewegung. Die Wahrheitsfinder schrien auf, griffen sich an die Köpfe und stürzten zu Boden. "Wahrheit und Lüge, Lüge und Wahrheit. Die Fäden des Spinnennetzes sind sorgfältig geknüpft."

Einer der Wachen war mutig genug, mit dem Schwert auf den Dämon loszugehen. Khezzarrik schleuderte ihn mit einer Handbewegung beiseite. "Das Spiel hat eine unerwartete Wendung genommen. Meine Abmachung mit dir, Galbren, war eine Absicherung gegen unvorhergesehene Fälle. Für die unwahrscheinliche Möglichkeit, daß ich gescheitert wäre und Beladanar die Macht über den Armygan an sich gerissen hätte. Verzeihung, ich meine natürlich: daß du die Macht an dich gerissen hättest." Er lächelte fein angesichts des kleinen Unterschieds.

Kooradah atmete schwer. Was er aus Khezzarriks Schnauze hörte, war nichts weniger als die Bestätigung des Verrats. Der Drunfürst erkannte, daß Khiray die Wahrheit gesagt hatte - daß Galbren der Lügner war. Aber der Leopard war zu klug, um etwas zu sagen.

"Wir haben keinen Pakt, Galbren, mein Freund. Kein formales Siegel bindet mich, und du hast nie einen Preis bezahlt. Du hättest dich etwas mehr mit Magie beschäftigen sollen, Gouverneur. Der einzige Grund, aus dem ich dir geholfen habe, den Geist der Wahrheitsfinder zu umnebeln, obgleich ich den Sieg über Beladanar davongetragen habe, ist, daß dieser kleine Fuchs hier meiner letzten Falle entronnen ist. Er hat das perfekte Ende des Spiels zerstört. Wäre jeder Stein an seinen Platz gefallen, würden die tapferen Verteidiger ihres sumpfigen Lochs nun tot in den Ruinen von Alvanere liegen, mein Fuchsfreund zwischen Wahnsinn und Verzweiflung schwanken, und seine lästige vierbeinige Geliebte nicht länger vierbeinig sein. Und deine Pläne, Galbren, hätten sich dem Fürsten offenbart, und du würdest in einer feuchten Kerkerzelle auf deine Hinrichtung warten, so daß mit dir die letzte Stimme stirbt, die noch von meiner Anwesenheit auf dieser Welt zeugte." Er seufzte tief. "Was für eine Vision! Was für eine herrliche Symmetrie! Erreicht trotz so vieler Rückschläge, nach Jahrtausenden des Wartens!" Khezzarrik schüttelte den Kopf. "Aber Khiray hat meinen Zauber abgeschüttelt. Er hat Beladanar verwundet. Und das exzellente Ende ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen."

Der Dämon trat vor Khiray und ließ sich auf ein Knie nieder, so daß er dem Fuchs in die Augen schauen konnte. "Es war ein sehr guter Zauber. Wenigen nur hätte ich es zugetraut, ihn zu überwinden. Liebe, Füchschen? Ist es das, was dir geholfen hat? Hilf mir, es zu verstehen!" Er streckte eine Hand aus und strich sacht über Khirays Wange. "Wenn ich Liebe verstünde, wäre meine Macht vollkommen. Dann könnte ich Spiele gegen die Erzengel selbst spielen."

"Wenn du Liebe verstündest", erwiderte Khiray leise, "dann wärst du kein Dämon."

Khezzarrik erhob sich. "Da magst du recht haben. So bindet mich das Schicksal."

Galbren wütete. "Eine Abmachung ist eine Abmachung! Du hast kein Recht, all meine Pläne zu offenbaren!"

Der Dämon hob die Schultern. "Oh, das ist tragisch! Nun, ich werde meine Seite der Abmachung erfüllen. Wie lauteten deine Worte noch einmal?" Er nahm Kooradah den Reif von der Stirn und drückte ihn auf Galbrens Kopf. "Ich soll dich unterstützen, bis du das Zeichen des Drun trägst und in der Halle der Fürsten stehst." Er trat einen Schritt zurück und bewunderte sein Werk. "Oh! Es ist soweit! Du trägst das Zeichen, und du stehst in der Halle. Voila!" Der Dämon klatschte in die Hände. "Es ist vorbei." Er nahm den Reif wieder an sich und warf ihn Kooradah zu.

Der Drunfürst fing das Symbol. "Es ist also alles wahr."

"Wessen Seite...?" Khezzarrik tat, als müsse er überlegen. "Oh, Khirays! Ja, ja, wenn man nicht allzugroßen Wert auf Perfektion legt... dann ist seine Version der Dinge sicher wahr. Nicht, daß ich ihn unterstützen wollte, aber... nun, meine eigentlichen Pläne sahen ein anderes Ende vor. Ich versuchte, mein Abkommen mit Galbren zu nutzen, um das Füchschen unter der Folter enden zu lassen. Als kleinen Ausgleich gewissermaßen für das verdorbene Ende des Spiels. Aber mich zu rufen... mich zu rufen, nach alldem, was ich dir angetan habe..." Er sah Khiray freudestrahlend an. "Das ist so brilliant! Feinde werden zu Freunden, Freunde zu Feinden! Für einen Sterblichen ist das beinahe schon dämonisch. Ich hätte dieser Welt fernbleiben und den Dingen ihren Lauf lassen können, aber ich mußte auf diesen Zug reagieren. Die Spielfigur wird zum Spieler."

"Was habt Ihr nun vor, Dämonenfürst?" fragte Kooradah.

"Mit dieser Welt? Nichts, nichts... für die nächste Zeit habe ich das Interesse an Sterblichen verloren. Außer an einem." Er fixierte Galbren. Der Gouverneur begann zu zittern. Eine Pfütze bildete sich um seine Pfoten. "Ich möchte mich an den Ausgang des Spiels erinnern in den kalten Nächten der Hölle. Ich möchte ein wohlschmeckendes Andenken, das mich lange Zeit ergötzt und meine Diener erfreut."

"Das Spiel", sagte Khiray, "ist noch nicht vorbei." Eine große Ruhe erfüllte seinen Geist. Er nahm das Dekka'shin aus den Händen des Erzmagiers. Dhaurakil leistete keinen Widerstand.

Khezzarrik kniff die Augen zusammen, als könne er nicht richtig sehen. "Das Spiel ist... nicht vorbei?" Zum ersten Mal zeigte der Dämon Unsicherheit. Khiray wurde gewahr, daß er die Waffe des Erzengels wirklich nicht sehen konnte. So, wie sich die Dämonen vor den Augen der Erzengel verborgen gehalten hatten, so blieb das Dekka'shin für Khezzarrik verschleiert.

Der Fuchs wirbelte herum, in einem Schlag, den Saljin ihm gezeigt hatte. Die Klingen waren noch immer scharf, trotz der Transformation des Trollstahls. Galbrens Kopf fiel zu Boden. Blut spritzte auf; weiter hinten wurden Schreie laut. Die Betrunkenen schienen schlagartig nüchtern zu werden. Der metallische Geruch des Blutes erfüllte die Luft.

Helden, dachte Khiray, fühlen keine Genugtuung. Aber er spürte tiefe Befriedigung. Galbren war tot, ganz sicher tot, und nichts würde ihn je wieder ins Leben zurückbringen. Der kopflose Körper zuckte und stürzte, das einst graue Fell rot verfärbt. Der verräterische Gouverneur würde nie wieder jemanden töten lassen.

Ein Spielstein, der vom Brett genommen wurde.

Die Macht des Erzengels lag in seinen Händen. Er war nicht mehr Khiray. Er war Taphaliel. Er war die Rache. Er war das Strafgericht, das über den Dämon und seine Verbündeten kam. Kaltes Feuer zuckte um seine Hände. Die grollende Stimme des Erzengels kam aus seiner Kehle.

Khezzarrik sah ihn verwundert an. "Warum hast du ihn mir genommen? Ich hätte ihn hundertfach zerbrechen können."

Khiray/Taphaliel lachte. "Niemand verdient es, in den Klauen von Dämonen zu enden. Nicht einmal Galbren." Aus den Augenwinkeln sah er, wie Dhaurakil Kooradah mit sich zog, weg von Khezzarrik, weg von dem todbringenden weißen Licht, das der Dämon nicht sehen konnte.

"Ich könnte dich an seiner Stelle nehmen", drohte Tor. Aber seine Stimme war nicht so mächtig, nicht so selbstsicher wie zuvor. Er spürte die Macht des Erzengels und konnte sich nicht gegen sie wehren.

"Versuch es", erwiderte Khiray. "Du bist des Todes", sagte Taphaliel.

Einige der Gäste waren bereits kreischend zu den Ausgängen gestürzt, doch die meisten schienen wie gebannt, schreckensstarr. Der Erzmagier zerrte an Kooradahs Arm, doch der Drunfürst ließ sich nicht zur Flucht bewegen. Stattdessen beugte er sich zu der bewußtlosen Vijapaai hinab und fühlte nach ihrem Herzschlag. Offenbar waren die Wahrheitsfinder nicht tot, denn der Fürst zog sie aus der Gefahrenzone und bedeutete den Wachen, sie fortzubringen.

Khezzarrik verbeugte sich. "Nun, ich sehe, daß meine Anwesenheit hier nicht mehr erwünscht ist. Bedauerlich; ich hatte mit mehr Dank gerechnet."

"Vielen Dank", meinte Khiray ironisch. "Wer das Gesetz übertritt, fällt der Vernichtung anheim", grollte Taphaliel.

Der Dämon machte einen Schritt rückwärts, gestikulierte und drehte sich um. Das Flimmern erschien in der Luft, dann die Flammen, schneller als zuvor. Khezzarrik legte offenbar keinen Wert mehr auf einen dramatischen Abgang.

Ein Dröhnen erhob sich, das die Wände zum Zittern brachte. Mit einem Laut wie ein gewaltiger Gongschlag brach das Tor zur Hölle in sich zusammen.

Khiray hatte Khezzarrik niemals fassungslos erlebt; der Dämon war stets Herr der Lage gewesen. Nun jedoch waberte seine fellige Gestalt, als besäße er nicht einmal mehr genug Konzentration, um die feste Form aufrechtzuerhalten. "Was geschieht hier?" heulte er. Er wiederholte die Gesten, wandte seine Zauber an. Das Tor erschien, und wieder brach es unter Getöse in sich zusammen. Blaue Funken zuckten und fuhren in Khezzarriks linken Arm. Brüllend versuchte der Dämon, sie abzuschütteln, doch sie fraßen sich in die Illusion des Fleisches, die den wahren Khezzarrik verhüllte. Für einen Moment sah Khiray hinter die Schatten. Khezzarrik war Beladanar ähnlich, ein formloses Wesen, das sich wand und zuckte, mit vielen Armen und Augen und Mündern und Zähnen. Dann verdichtete sich die Dunkelheit wieder, und die Felligen-Figur entstand erneut.

Nur, daß ihr linker Arm fehlte. An der Schulter hing nur noch ein verkohlter Stumpf. Khezzarrik starrte auf die Wunde.

"Der Pakt", erinnerte Khiray ihn.

Der Dämon wirbelte herum. Drei Augen glotzten aus der Stirn. Die Mähne schien aus dünnen Tentakeln zu bestehen. Der Kiefer teilte sich bei jedem Wort. "Was ist mit dem Pakt? Du hast mir gestattet, wieder Tore zu öffnen!"

"Ein Tor", korrigierte der Fuchs ruhig. "Ein Tor hierher. Nicht mehr. Kein Tor zurück. Du hast es selbst hinter dir geschlossen. Niemand kann den Pakt brechen. Der Dämon, der es versucht, stirbt."

Khezzarrik fühlte mit der rechten Hand nach seiner linken Schulter, als bedürfe er eines Beweises.

Dann explodierte er. Die Schatten sprangen auseinander, wurden zu titanischen Armen aus Dunkelheit voller Saugnäpfe und Widerhaken. Khiray wirbelte das Dekka'shin herum, durchtrennte einige der Tentakel. Khezzarrik wußte, daß er gegen eine Macht kämpfte, die er nicht besiegen konnte - außer, indem er den Fuchs tötete. Nichts anderes würde die Verbindung zur unendlichen Macht Taphaliels unterbrechen.

Flucht war nicht genug. Wenn er floh, war er noch immer hier gestrandet, an den Pakt gebunden, so lange Khiray lebte. Nach allen Tricks, mit denen er Beladanar gestürzt hatte, fand er sich nun selbst in dessen Lage.

Khiray/Taphaliel sprang vorwärts, in das Zentrum der brodelnden Schatten hinein. Das Dekka'shin glühte in unirdischem Feuer. Es durchschnitt die Fäden der Dunkelheit und drang ins pulsierende, finstere Herz des Höllenwesens.

Der Schrei erschütterte die Welt. Die Essenz des Dämons kristallisierte, die ausgestreckten Tentakel versteinerten, bohrten sich in Wände und Boden. Die Mauern des Palastes schwankten. Licht durchdrang die Schatten, wob sich um die grauen wabernden Blasen im Inneren der Kreatur und preßten das Leben aus ihnen heraus.

Ein Geruch wie von Asche und heißem Stein breitete sich aus. Khiray zog das Dekka'shin zurück. Der formlose Rest des Dämons vor ihm erinnerte an die geschmolzene Lava, die Vulkane ausspuckten. Langsam erstarrte die Masse. Anders als bei Beladanar verschwand die Leiche Khezzarriks nicht.

Die Schwärze veränderte sich ein letztes Mal. Ein Gesicht erschien aus der finsteren Glut. Es hatte Khirays Augen, doch die Schnauze war ein unförmiges Gebilde mit Fangzähnen in klackenden Insektenkiefern. "Gut gemacht", flüsterte Khezzarrik. "Du hast das Spiel gewonnen. Die Figur schlägt ihre Spieler. Ein Held mehr ist geboren, für den man Legenden erfinden wird. Ein würdiger Gegner für Dämonen" Die Kiefer schlossen sich. "Du mußt noch etwas Heldenhaftes sagen. Wie wäre es mit einem Triumphgeheul? Gib dir Mühe, kleiner Fuchs... vergiß nicht, die gefährlichsten Feinde sind die, die man nicht beachtet..."

Khiray schwieg. Der Einfluß Taphaliels hatte ihn verlassen. Der Dämon verstummte. Schwarze Macht troff aus den Tentakeln, die gleich grotesken Balken den Raum durchzogen. Dann brüllte ein Sturm auf, riß die Reste der Dämonenmacht mit sich gen Himmel. Unter der Gewalt barst die Kuppel, und bunte Scherben regneten herab, zersplitterten an den versteinerten Armen, schlugen klirrend auf dem Boden auf.

Der Nachthimmel wurde von weißen Ringen erleuchtet, die sich bis zum Horizont ausbreiteten. Das Feuer eines Erzengels, die Finsternis eines Dämons. Khiray starrte nach oben, bis die letzten Reste der widerstreitenden Mächte erloschen waren.

Die Stille und das Schweigen, die danach den Raum erfüllten, schienen eine Ewigkeit zu dauern. Dann begann einer der Verletzten zu wimmern - Glassplitter hatten ihn getroffen. Nur wenige hatten den Verstand besessen, die Tentakel des versteinerten Dämons als Unterstand zu nutzen oder sich unter die Tische zu retten. Der Hagel feiner Scherben hatte kaum einen verschont. Die Bewaffneten, die dank Rüstung und Helm unversehrt geblieben waren, halfen den Verwundeten auf.

Khiray sah sich um. Der Klumpen, der Khezzariks Zentrum gewesen war, lag in der Mitte des Raums wie ein gewaltiger Findling, höher als Kooradah und kaum von vier Hirschen zu umspannen. Die kondensierten Schatten hingen wie marmorne Vorhänge darüber. Wenn man genau hinsah, konnte man die wahre Gestalt des Dämons noch in den geschmolzenen Brocken erkennen: ein Wesen mit vielen Zähnen, das aus dem Stein zu springen schien, starrte man zu lange darauf. Die Tentakel - scharfkantig und voller Haken und Stacheln - ragten in alle Richtungen; manche endeten in der Luft, andere bohrten sich in die Mauern, und einige durchstießen das Mauerwerk des Baus selbst und spannten sich über den Hof draußen. Der Raum schien angefüllt mit Tentakeln, und durch irgendeinen Trick der Schatten oder ein Spiel des Lichts sah es so aus, als würden sie sich noch bewegen.

Aber das, was Khirays Blick anzog, war das groteske, verzerrte Gesicht im Stein. Es hatte noch immer seine Augen. Und trotz der vielen Kiefer schien es zu lachen, wie über einen guten Witz.

Was bedeutete der Tod für einen Dämonen? Das Ende des Spiels?

Erschöpft sah Khiray nach oben. Es war Nacht. Die Flut war längst gekommen, das Schiff der Fuchstauren unterwegs zum Goldenen Ufer.

Es spielte keine Rolle mehr. Bleierne Müdigkeit kroch durch seine Adern. Taphaliels Präsenz hatte ihn aller Kraft beraubt. Galbren war tot, Khezzarrik war tot. Er war der letzte der Spieler. Doch der Sieg ließ ihn kalt. Er träumte von einem weichen Fell...

Kooradah und Dhaurakil schlossen zu ihm auf, als er den Saal verlassen wollte.

"Ich muß mich entschuldigen", sagte der Drunfürst. Über sein geflecktes Fell zogen sich Blutstriemen.

Der Fuchs nickte leicht. "Diese neue Skulptur wird sich nicht leicht entfernen lassen." Er deutete hinter sich.

Kooradahs Miene blieb ausdruckslos. Er schien zu überlegen, ob Khiray einen Witz gemacht hatte. Dann sagte er: "Der Armygan wird nie wieder sein wie zuvor. Wir können den Wahrheitsfindern nicht mehr wirklich trauen. Und wir müssen wachsamer werden gegenüber dem Verrat in unserer Mitte."

Khiray sah nach draußen. Die Tür war unter den Erschütterungen geborsten. "Ich habe einen Wunsch."

"Er ist erfüllt", behauptete Kooradah.

"Im Hafen liegt ein Schiff, ein Dampfer. Ihr Name ist 'Laidanna'; sie gehörte Galbren. Sie soll einer Ratte namens Delley und einem Dachs namens Kinnih übereignet werden."

"So sei es."

"Und es gibt ein Wrack... das Wrack meines Schiffes. Wenn noch irgend etwas daraus zu retten ist, so soll Delley es bergen lassen und für mich aufbewahren."

"Es ist so gut wie getan."

Khiray dachte nach. Für die Otter konnte er kaum etwas tun; Fryyk würde zu den Seinen zurückkehren. Sie mußten ihr Dorf wieder aufbauen, aber Hilfe von Kooradah würden sie nicht annehmen. Man sah es den Ottern nicht an, aber sie waren ein stolzes Volk. Und Lysh... Ob sie sich jemals fragte, was aus ihm geworden war? Und da war auch noch Onkel Farlin, der sich Galbrens Truppen angeschlossen hatte. Wenn er erfuhr, was er getan hatte, würde er untröstlich sein. Aber das ließ sich nicht ändern. So viele unerledigte Dinge, so viele Fäden, die er niemals zusammenknüpfen würde. Perlish und die Schwerter aus Trollstahl. Shooshun in Bärenberg. Kaslin-Ray. Farlin in Sookandil. Pallys' Bücher. Ghanzekks Forschungen. Die Trolle.

Die Sterne funkelten und lockten. Er verabschiedete sich nicht, aber er hörte viele Stimmen hinter ihm seinen Namen murmeln: Wachen und Gäste.

"Khiray vom Fluß", sagte Kooradah.

Der Fuchs drehte sich noch einmal um.

"Ich danke dir."

Khiray nickte. Dann überquerte er die Brücke, verfolgt von Dutzenden von Augenpaaren. Er verließ den Palast auf geradem Wege. Niemand hielt ihn auf, obwohl es von Wachen und Bediensteten wimmelte wie in einem Ameisenhaufen. Draußen winkte er sich einen Wagen heran. Die Straßen waren voller Felliger, die in den Himmel starrten, als erwarteten sie ein Zeichen von dort. Das Ende des Dämons war weithin sichtbar gewesen - für viele mußte es wie das Ende der Welt erschienen sein.

Er hatte kein bestimmtes Ziel, also ließ er sich zum Hafen bringen. Vielleicht hatten Delley, Kinnih und Fryyk auf ihn gewartet. Sie konnten durch die Kneipen ziehen. Er trank nicht häufig, nur wenn es das Geschäft verlangte, doch heute nacht würde er sich betrinken. So viel Tod. Nur ein Spiel der Hölle.

Die Ratte, der Dachs und der Otter waren da. Sie standen herum und schienen auf etwas zu warten. Auf jemanden. Khiray lächelte. Es war gut, Freunde zu haben. Und da war noch jemand. Eine Fuchstaurin.

Saljin? Hatte Balashain von den Grünen Klippen nicht gesagt, sie brauche noch Wochen der Ruhe?

Nein. Es war Balashain selbst. Das Schiff hatte noch nicht abgelegt; die dunkle Silhouette des Zweimasters ragte über dem Wasser empor.

Er verließ den Wagen und warf dem Zieher eine Münze zu.

Die Fuchstaurin verschränkte die Arme. "Ihr kommt spät." Sie grinste. "Wir wollten gerade ablegen."

Ein Gefühl durchströmte Khiray, das er nicht einordnen konnte - Dankbarkeit? Erleichterung? Saljin war noch da. Das war alles, was zählte. Er wandte sich an seine Freunde. "Delley... die 'Laidanna' gehört dir und Kinnih. Der Drunfürst wird für alles sorgen. Fryyk... ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken soll..."

Der Otter winkte ab. "Vergiß es. Es war ein Abenteuer. Vielleicht etwas zu abenteuerlich für meinen Geschmack, aber ich lebe noch."

"Willst du wirklich gehen, Kapitän?" fragte Kinnih.

Khiray nickte stumm.

Der junge Dachs ergriff seine Hand. "Viel Glück." Dann drehte er sich um und eilte davon, als müsse er etwas verbergen.

"Mh, die Jugend", murrte Delley und wischte sich die Augen. "Können es gar nicht erwarten, in die nächste Kneipe zu kommen. He, Khiray. Wenn du wieder im Land bist..."

"Ich vergesse euch nicht", erwiderte der Fuchs.

"Khezzarrik ist tot?" wollte Fryyk wissen.

"Dumme Frage", gab Delley zurück. "Los, laß uns gehen. Eh, Kinnih, wie viele Mädchen hattest du schon?" Er schlenderte langsam davon.

Der Dachs sah verwundert auf. "Mädchen? Also, nun..."

"Keines, eh? Na, macht nichts. Das ändert sich. Morgen früh stehst du als Mann am Steuer. Die 'Laidanna' ist nicht die 'Ansicc', aber mit ein paar Modifikationen... Fryyk, stehst du auf große Frauen...?"

Khiray sah den dreien nach, bis sie zwischen den Lagerhäusern verschwunden waren.

"Wird Zeit", brummelte Balashain. "Die Flut wartet nicht."

"Ihr habt auf mich gewartet."

"Huh." Die Fuchstaurin ging an Bord, und Khiray folgte ihr. Er war schon einmal auf dem Schiff gewesen, doch diesmal war es, als beträte er ein neues Land. Ein Dutzend Fuchstauren schien nur auf ihn gewartet zu haben. Die Planke wurde eingezogen, die Segel entrollt. Langsam schob sich das Schiff von der Mole fort, aus dem Hafen auf die offene See. "Ich habe dich mit ihr gesehen. Bin nicht mehr die Jüngste, aber so viel kann ich noch erkennen. Und sie braucht jetzt jemanden. Eh, dieser kleine Dachs hat uns sechs Traglasten von dem verdammten Zeug anschleppen lassen... bin ja gespannt, wie ihr das tausend Kilometer weit nach Norden bringen wollt." Sie lehnte sich auf die Reling.

Khiray stand einen Moment unsicher da, bis die Kapitänin ihn in die Rippen stieß. "Na los, geh schon. Du siehst aus, als würdest du 'ne Mütze voll Schlaf gebrauchen können."

Der Fuchs nickte und stieg unter Deck, sehr vorsichtig - das Seeschiff schwankte viel stärker als die 'Silberne Ansicc'. Ein kleines magisches Licht tauchte die Kabine der Fuchstaurin in schummriges Halbdunkel. Khiray lehnte das Dekka'shin in eine Ecke und trat an das Bett. "Saljin?"

"Hmmm? Oh, Khiray." Sie legte Kraft in ihre Stimme, aber der Fuchs sah an ihren Augen, wie schwach sie wirklich war. "Ich habe schon befürchtet, sie würden ohne dich segeln."

"Irgend jemand muß auf dich aufpassen, oder? - Khezzarrik ist tot, und Galbren auch."

Die Fuchstaurin nickte langsam, sagte aber nichts.

Khiray legte Weste, Ohrschmuck und Lendenschurz ab. Auf seinem rechten Arm waren Spuren von Blut, aber er fühlte keine Verletzung. Galbrens Blut. Er entsann sich... der Kopf des Gouverneurs...

Morgen. Morgen würde er über alles nachdenken. Morgen, wenn die Schwäche aus seinen Beinen verschwunden war. Morgen, wenn die Stimmen der Dämonen in seinem Geist verstummten. Kooradah, Dhaurakil, Vijapaai. So viel, von dem er Saljin berichten mußte. Morgen begann ein anderes Leben.

Er legte sich neben Saljin und berührte sie vorsichtig. Das Bett war ziemlich eng für zwei, aber wenigstens war es nach Fuchstauren-Maßen gebaut. Morgen. Morgen war Zeit genug.

* * *

Und was ist es, das uns zu Helden macht?

Es geht nicht darum, wie viele Feinde wir schlagen; jeder barbarische Mosterschlächter kann tausend Gegner töten, mit genügend Glück und bloßer Gewalt. Jeder geschickte Schwertträger kann sich einen Namen verdienen, wenn er seine Widersacher sorgfältig genug wählt. Jeder Anführer einer Brigantenbande kann mit dem prahlen, was er erreicht hat, indem er seine Bewaffneten für sich kämpfen läßt.

Es geht auch nicht um eroberte Königreiche und erzählte Sagen. Manchmal werden Legenden um Gestalten der fernen Vergangenheit gewoben, die ihre Tugenden übertreiben und ihre Fehler herunterspielen, aus ihnen Figuren in Erzählungen machen, die größer im Tod sind, als sie es je im Leben waren. Wir wählen diese Art Held selbst, indem wir Geschichten austauschen und Mythen lauschen, doch diese Helden der Sagen sind tot und können die Wahrheit nicht enthüllen.

Und es geht nicht um die edlen Taten, die wir vollbringen. Auch diese gehören in Legenden; Edelmut findet sich selten im Leben. Wir alle haben unsere Wünsche, unseren kleinen Dämon der Gier, auf den wir hören. Selbst die hehrsten Edelleute handeln vielleicht nicht aus Selbstlosigkeit, sondern aus Eitelkeit; sie sonnen sich in der Bewunderung anderer, die in ihnen die tadellosen Helden sehen.

Wahre Helden... lebende Helden...

Es geht um die Stärke des Geistes, um das Opfer, das wir bringen, um die Dinge, die wir überleben.

Manchmal geschehen Dinge - Ereignisse, die uns verletzen, die unsere Seelen verwunden, die uns zu zerstören drohen und unser Leben in Dunkelheit hüllen. Wir können die Umstände nicht beherrschen; ganz gleich, wie sehr wir uns anstrengen, ein aufrechtes Leben zu führen und dem richtigen Pfad zu folgen: trotz allem geschehen diese Dinge, die Schatten holen uns ein, und die Zeit läßt uns hinter sich, ein zerbrochenes Abbild all dessen, was wir jemals zu sein hofften.

Es gibt einen Ort irgendwo in der Leere, wo die Stille uns einhüllt, wo die Bilder grau werden, wo Töne stumpf klingen und die Erinnerung weit fort erscheint. Es ist ein Versteck, in dem wir uns zusammenrollen und zittern wie kleine verängstigte Tiere, die in Einsamkeit leiden. Keine Narben sind tiefer als die Narben der Seele.

Einige von uns verlassen diesen Ort nie mehr. Sie verirren sich dort, in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Manchmal brechen sie aus in einer letzten großen Anstrengung, sie zerstören alles, was sie sind und sein könnten, indem sie ihr Leben opfern, sie entkommen aus der Dunkelheit der inneren Räume in das ewige Vergessen des Todes.

Dann gibt es noch die Helden.

Wir kämpfen, einen Kampf, der einsamer ist als alles andere, denn er wird in unserem Geist ausgetragen. Es spielt keine Rolle, warum wir es tun, oder was uns die Kraft verleiht. Liebe, Haß, Freundschaft, Pflicht. Wir benutzen unseren Verstand, unseren Mut, unseren Willen, um die Leere zu bekämpfen, in einer Schlacht gegen unsere inneren Dämonen, die immer schon so viel gefährlicher waren als die äußeren Dämonen, denen wir vielleicht begegnen mögen.

Einige fallen zurück in die Finsternis, ziehen sich zu dem schweigenden Ort zurück, ihr Kampf ist verloren. Aber manche erreichen das Licht.

Helden sind wie gehärteter Stahl, im Feuer geschmiedet.

Einige umarmen die Flammen und ziehen ihre Stärke aus ihnen; statt von den Visionen verletzt zu werden, begegnen und besiegen sie sie. Sie haben die Leere mit ihrem Mut durchquert. Sie haben die Furcht mit ihrem Willen bezwungen. Sie haben das Schweigen durchbrochen mit der Stärke von Herz und Seele. Sie sind die Helden.

* * *

Tief in den Eingeweiden eines Schiffes, das den Ozean entlang der Küste befuhr, rührte sich Khiray im Schlaf. Die Bilder von Dämonen kehrten immer wieder. Sie konnten ihn nicht verletzen, jetzt nicht mehr; er hatte sie alle überwunden, und, was wichtiger war, er hatte sich selbst überwunden. Aber er wußte, daß sie seine Träume noch lange Zeit begleiten würden.

Er streckte eine Hand aus und berührte Saljins Rücken, ganz sacht, um sie nicht zu wecken. Seine Finger berührten weiches, warmes Fell. Er vergrub seine Schnauze im seidigen Haar ihres Nackens, atmete ihren süßen Geruch, bis seine aufgewühlten Gedanken zur Ruhe kamen.

Saljin fühlte, wie er sich bewegte, und rollte sich ein wenig mehr zusammen, soweit es ihre Wunde erlaubte, beruhigt in der Gegenwart ihres Geliebten.

So lange es dauert, dachte sie, aber tief im Inneren hoffte sie, daß 'für immer' zumindest eine Möglichkeit war.

Schlaft gut, kleine Füchse, und mögen eure Träume gesegnet sein.


ENDE